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Young | Kommentar – Wenn „zurück“ zum Fortschritt wird

// Pia von Musil //
„The history book on the shelf – it’s always repeating itself” (dt. „Das Geschichtsbuch im Regal – es wiederholt sich immer wieder”), diesen Satz sang bereits die schwedische Band ABBA in ihrem weltberühmten Song „Waterloo“.

Dass sich Geschichte wiederholt bzw. manchmal ein bedrückendes Muster aufweist, können wir uns an einem ganz bestimmten Thema vor Augen führen: der Situation der Frauenrechte.
Während in den meisten demokratisch gelenkten Staaten unserer Erde sich diesbezüglich Aufbruch, Verbesserung und Fortschritt bemerkbar machen, sehen wir in anderen Gebieten Stillstand oder – noch schlimmer –
eklatante Rückschritte.
Es geht zurück in eine Zeit, in der Diskriminierung, Sexismus, Ausgrenzung, kurz gesagt Ungleichheit und Ungerechtigkeit, nicht nur salonfähig, sondern durch menschenverachtende Traditionen, Regeln und Gesetze regelrecht gewollt, gefördert und legitimiert wurden. Legitimiert von einem System, welches Frauen und Mädchen entmachtet, isoliert, desozialisiert, versteckt, ja identitätslos machen will.

Staaten, in denen Frauenrechten keinerlei Beachtung geschenkt wird, werden häufig von Männern gelenkt, die an streng patriarchalen, diktatorischen und schlichtweg menschenunwürdigen Idealen und Werten festhalten: u.a. Abtreibungsverbot, Zwangsheirat, Verschleppung, Versklavung, Zwangsprostitution, Verstümmelung. Es scheint, als würden dabei Frauenrechte zum Spielball der Machtausübenden werden.
Eine Garantie für den gradlinigen Fortschritt einer Gesellschaft hin zu mehr Geschlechtergerechtigkeit gibt es leider nicht, wie uns jüngste Nachrichten aus Afghanistan auf tragische Art und Weise aufzeigen.
Das Land ist ein trauriges Beispiel für das „Zurück“ der Frauenrechte, der Menschenrechte. Afghanistan war nicht immer das Land, das den Taliban ausgeliefert war. In den 1960er- und zu Beginn der 1970er-Jahre galt es als ein „Land der Hippies“, ein „Sehnsuchtsort der westlichen Aussteiger“, wie es die Neue Züricher Zeitung jüngst formulierte. Diese Gelassenheit blieb bestehen, bis König Zahir Shah 1973 durch einen von der Sowjetunion unterstützten Putsch abgesetzt wurde; die darauffolgende nationalistisch-sozialistische Regierung blieb von Moskau abhängig. 1979 marschierten die Sowjets in Afghanistan ein und versuchten, das Land in die Knie zu zwingen; die USA ließ es sich daraufhin nicht nehmen, die Rebellen im großen Stil mit Waffen zu unterstützen.
Diese Auseinandersetzung zog sich über mehrere Jahrzehnte hin und nun, im Jahre 2021, wurde ein neues Kapitel aufgeschlagen.
Nach dem überhasteten Abzug der internationalen Truppen und der Einstellung der Evakuierungsflüge führen uns Zeitungsartikel, Reportagen und Interviews die blanke Angst und Verzweiflung, die Wut und die Hilflosigkeit über das Ausgeliefertsein der Menschen vor Augen.
Morssal erzählt ihre Geschichte
Ich will es mir nicht anmaßen, über eine Situation zu schreiben, für deren Schrecklichkeit meine Vorstellungskraft nicht ausreicht. Ich finde auch, es steht mir nicht zu.
Es würde sich neben dem Bild einreihen, wo vier weiße Männer so tun, als wären sie die Richtigen, um über Rassismus und Diskriminierung zu debattieren.
Umso mehr freut es mich, dass ich mit einer jungen Frau meines Alters in Kontakt gebracht wurde, die ganz genau weiß, wovon sie spricht.

Morssal, eine in Wien lebende gebürtige Afghanin brachte den Mut und das Vertrauen auf, mir – einer bis dato noch völlig fremden Person – ihre persönliche Geschichte zu erzählen.
In den letzten Zeilen dieses Artikels möchte ich nun sie, ihre Erinnerungen, ihre Gefühle zu Wort kommen lassen.

„Besonders meine Mutter erzählt viel darüber, wie sie früher gelebt hat und wie das Leben früher in Afghanistan war und das alles bedrückt mich manchmal sehr. Sie hat mir so viele unglaubliche Geschichten erzählt, wo ich mir immer dachte: ‚Was für eine starke Frau.‘ Meine Oma und meine Mama sind für mich Vorbilder. Meine Oma ist damals mit Miniröcken auf die Straße gegangen, da war das gar kein Problem. (…) Als meine Mama 19 oder 20 war, kamen die Taliban an die Macht, dann wurden Schulen für Mädchen gesperrt, Universitäten wurden gesperrt, Frauen hatten keinerlei Rechte. Meine Mama durfte auch ab einem gewissen Alter nicht mehr zur Schule gehen. Afghanische Frauen hatten es nie leicht und werden es auch nie leicht haben. Sie müssen immer für etwas kämpfen, was eigentlich selbstverständlich sein sollte. Und es tut innerlich so weh, dass ich hier nichts machen kann. Ich habe gespendet und gebetet, aber mehr kann ich nicht machen und das tut mir so weh. (…) Ich bin jetzt in Wien, habe einen großen Teil meiner Verwandtschaft noch nie gesehen, meine Großeltern zum Beispiel. Ich würde sie gerne mal in den Arm nehmen. Es ist schwer. Sie können nicht raus, ich kann nicht zu ihnen. (...)

Eigentlich wollen Menschen weiter in die Zukunft, sich fortentwickeln. Aber was Menschen in Afghanistan wollen, ist die Entwicklung zurück in die Zeit, bevor die Taliban an die Macht kamen.“
„Ich dachte immer, jeder Mensch ist gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es manche gibt, die nicht hingehen müssen“
Erich Maria Remarque
„Solidarität mit afghanischen Frauen beim Frauenmarsch in Bozen am 25. September“ © Pia von Musil / ëres

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Frauen schreiben Geschichte

// Sabina Drescher //
Forschungen zum historischen Wirken von Frauen sind noch immer Mangelware, ebenso wie die Betrachtung der Allgemeinen Geschichte aus einem geschlechtsspezifischen Blickwinkel. Historikerin Siglinde Clementi möchte das ändern. Sie rückt Frauen in den Fokus der wissenschaftlichen Betrachtung.
Siglinde Clementi, Jahrgang 1967, ist Historikerin. Sie war langjährige Koordinatorin der Arbeitsgruppe Geschichte und Region – Storia e regione. Seit 2013 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin des Kompetenzzentrums für Regionalgeschichte der Freien Universität Bozen, seit 2019 ist sie Vizedirektorin des Zentrums. Clementi ist zudem Vorstandsmitglied der Società Italiana delle Storiche. © Sabina Drescher / ëres
ëres: Bis Ende der 1960er Jahre blendete die Geschichtswissenschaft die historische Lebenswelt von Frauen aus ihrem Themenrepertoire weitgehend aus. Wieso?
Siglinde Clementi: Dieser Umstand hängt mit dem damaligen Konzept von Geschichte zusammen, mit der Geschichte der großen Männer, der Kriege und politischen Ereignisse. Frauen kommen in dieser Erzählung kaum vor. In den 1970er-Jahren entwickelten sich parallel zueinander neue Forschungsfelder, die Alltagsgeschichte, die Geschichte von unten, die Mikrogeschichte und eben die Frauen- und Geschlechtergeschichte, die sich im Kontext der Zweiten Frauenbewegung entfaltete. Die erste Frage, die sich die Historikerinnen damals stellten, war: Wo sind die Frauen in der Geschichte? Und weiter: Was haben sie getan? Wo waren sie, während Männer politisch tätig waren oder Kriege führten? Dadurch kamen zunächst gesellschaftliche Bereiche ins Blickfeld wie das Soziale und die familiären Beziehungen, und nach und nach alle anderen Bereiche – etwa die Wirtschaft und die Politik. Letztlich geht es in der Geschlechtergeschichte um die Analyse von Machtverhältnissen in allen gesellschaftlichen Bereichen.
Wie hat sich die Frauengeschichte als Teilbereich der Geschichtswissenschaften in der Folge entwickelt?
Der wichtigste Übergang war jener von der Frauen- zur Geschlechtergeschichte. Zu Beginn wurde ein starker Fokus auf einzelne Frauen gelegt, auf die Frage: Wo haben welche Frauen gewirkt? Erst in einem zweiten Schritt wurde die Kategorie „Geschlecht“ ins Zentrum gesetzt und der Tatsache Rechnung getragen, dass es einen erheblichen Unterschied in der Geschichte machte, ob man als Mann oder als Frau geboren wurde. Zentral sind die Diskurse der jeweiligen Zeit, die Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit, die damit zusammenhängenden Rollenbilder und wie diese in der sozialen Lebenswelt umgesetzt wurden. Ein weiterer Fokus liegt auf den Handlungsmöglichkeiten der historischen Akteurinnen und Akteure.
Welchen Mehrwert brachte bzw. bringt dieser geschlechterspezifische Blick auf die Geschichte?
Für Frauen – aber auch für Männer – ist er wichtig, weil es um ihre eigene, auch persönliche Geschichte geht. Es ist schade, dass Geschichte lange Zeit so praktiziert wurde, als hätte sie nichts mit uns zu tun, sondern sei etwas Elitäres, zu dem kaum jemand Bezug hat. Der afroamerikanische Dichter James Baldwin formulierte es treffend: „Die große Kraft der Geschichte rührt von der Tatsache, dass wir sie in uns tragen“. Da uns Geschichte – ob unsere eigene individuelle, unsere Familiengeschichte oder die Geschichte unseres Landes – prägt, ist es wichtig, sie in ihren Grundzügen zu verstehen. Und für Frauen ist die Geschichte nun einmal anders. Letztlich geht es um Freiheit.
Weshalb ist die Frauen- und Geschlechtergeschichte in der Regionalgeschichte noch immer stark marginalisiert?
Frauen kommen zwar vor, aber häufig anekdotenhaft, als Protagonistinnen von Geschichten oder Erzählungen, so wie Anna von Menz („1811 die reichste Erbin Bozens, Anm. d. Red.“), die als „Franzosenbraut“ bekannt war. Ein weiteres Beispiel ist Katharina Lanz („Magd und Tiroler Freiheitskämpferin, Anm. d. Red.“), von der wir nicht wissen, ob sie tatsächlich existierte. Sie ist eher eine mythische Gestalt bzw. Konstruktion. Dieser Umgang ist verniedlichend, nicht ernst nehmend. Die wirklichen Frauen kommen in der Regionalgeschichte hingegen kaum vor. Es gibt viel zu tun. Bei jedem Thema ist die Frage zu stellen, wo die Frauen waren und wie die Geschlechterverhältnisse aussahen. Das ist hochkomplex.
Haben Sie sich mit der Rolle der Frauen während der Bombenjahre in Südtirol beschäftigt? Der Kampf um die Südtiroler Autonomie wird ja hauptsächlich aus männlicher Perspektive erzählt.
Ich persönlich habe das nicht. Es gibt ein Buch von Astrid Kofler, „Zersprengtes Leben“, über die Ehefrauen der Attentäter. Ein weiteres Buch hat Herlinde Molling herausgebracht, die sich zusammen mit ihrem Mann aktiv im Befreiungsausschuss Südtirol engagierte.
Prinzipiell bräuchte es einen breiteren Ansatz. Die Bombenjahre waren ein Teil der Autonomiegeschichte und der Nachkriegsgeschichte, die aus frauen- und geschlechterhistorischer Perspektive aufgearbeitet werden müssten. Einen Schritt in diese Richtung haben wir mit dem Buch über Waltraud Gebert Deeg gesetzt, in dem auch das Verhältnis von Frauen und Politik in Südtirol nach 1945 nachgezeichnet wird, unter anderem die verschiedenen Positionen, SVP-Frauen um Gebert Deeg versus linke Frauen wie Andreina Emeri, Grazia Barbiero, die in der Frauenbewegung der 1970er-Jahre aktiv waren. Zu Beginn, 1945/1946 als das Frauenwahlrecht in Italien eingeführt wurde, gab es eine starke Tendenz, Frauen aus dem „schmutzigen Geschäft“ der Politik fernhalten zu wollen. Auch Kanonikus Michael Gamper bescheinigte, es sei nicht seine Absicht, Frauen in das aufgeregte Feld der Politik hineinzuziehen. Während in Restitalien von Seiten der DC und der Linksparteien um die Stimmen der Frauen gebuhlt wurde, wurde in Südtirol von der deutschsprachigen Mehrheit aufgrund der ethnischen Frontstellung stillschweigend vorausgesetzt, dass Frauen SVP wählen.
Lassen sich daraus Schlüsse für die heutige Zeit ziehen?
Den Anspruch, aus der Geschichte zu lernen, mag ich überhaupt nicht, denn er wird der Komplexität des Feldes nicht gerecht. Man lernt meiner Meinung nach nicht aus der Geschichte, weil jede Epoche einzigartig ist und im Kontext analysiert werden muss. Man lernt, indem man das zur Kenntnis nimmt und versucht, die historischen Zusammenhänge zu verstehen. Deshalb ist es für mich gerade als Mikrohistorikerin, die an den kleinen Schicksalen die großen Fragen bespricht, wichtig, präzise zu kontextualisieren. Die Auseinandersetzung mit Geschichte schärft das Verständnis für die Lage, in der wir uns befinden. Auch jedes Land und jedes Problem hat seine Geschichte, die wir kennen müssen, um konstruktiv damit umgehen zu können.
Wie kann die Frauen- und Geschlechterforschung bekannter werden?
Über verstärkte Vermittlung und vor allem müsste sie stärker als bisher Eingang in die Schulbücher finden. Ich bin im Vorstand der „Società Italiana delle Storiche“, die auf nationaler Ebene ein ganzes Fortbildungsprogramm zur Frauen- und Geschlechtergeschichte für Lehrer*innen aller Schulstufen durchführt. Im Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte der Freien Universität Bozen, wo ich den Forschungsbereiche Regionale Frauen- und Geschlechtergeschichte leite, haben wir gerade eine Vermittlungsinitiative gestartet, „History on Tour“. Auf Einladung von Bibliotheken und Bildungsausschüssen halten wir Vorträge im Rahmen unserer Forschungsbereiche. Ich biete dabei ein frauen- und geschlechterhistorisches
Thema an.

Ein weiteres Vermittlungsprojekt wurde von der Politik an uns herangetragen: Frauenbiografien und Straßennamen. Wir arbeiten ein Vademecum vor allem für die Gemeindepolitik aus, in dem wir Empfehlungen aussprechen, welche Frauennamen sich für Straßennamen anbieten und die entsprechenden Frauenbiografien erarbeiten.
LESETIPPS!
Die Landesmutter. Waltraud Gebert Deeg, Bozen 2021 (gemeinsam mit Renate Mulmeter und Karl Tragust).

Der andere Weg. Beiträge zur Frauengeschichte der Stadt Brixen vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Brixen 2005.

Frauen-Stadt-Geschichte(n). Bolzano-Bozen. Vom Mittelalter bis heute, Bozen/Wien 2000 (gemeinsam mit Martha Verdorfer).