SPEAK

15 Minuten für eine Entscheidung

// Bettina Conci //
Nataliia Kyrychenko, 37, geboren in einer Kleinstadt in der Nähe von Kiew, hat viele Jahre in der ukrainischen Hauptstadt gelebt und dort als Englischlehrerin Kinder zwischen 6 und 15 Jahren an einer privaten Schule unterrichtet. Am 24. Februar flüchtete sie und ist nun bei ihrer Schwester und deren Nichte in Südtirol untergekommen.
Die gelernte Englischlehrerin macht den NATO-Staaten keinen Vorwurf: „Warum sollte ich jemandem böse sein? Ich bin dankbar für jede Person, die hilft.“ © Nataliia Kyrychenko
Du warst in Kiew, als der Krieg ausbrach. Kannst du uns etwas über die Geschehnisse an jenem Tag erzählen?
Eine Woche vor Kriegsbeginn hielten wir einen Einmarsch der russischen Truppen noch für unwahrscheinlich. Ich erinnere mich, wie Freunde aus den USA mich anriefen und zur Flucht aufforderten, während wir uns noch über diesen Krieg, von dem alle redeten, lustig machten. Wir dachten, es würde zu etwas Ähnlichem wie 2014 kommen. Aber wir lagen falsch. Am 24. Februar wurde ich gegen halb fünf Uhr morgens von explosionsartigem Lärm geweckt, den ich zunächst nicht einordnen konnte. Als ich den rötlich gefärbten Himmel sah und ein Hund in der Nachbarschaft laut zu bellen anfing, dämmerte mir, dass der Krieg jetzt da war. Zumindest ein Teil von mir hatte es begriffen, während der andere sich noch dagegen wehrte.
Was hast du gemacht?
Meine Notfalltasche war bereits gepackt, und so zog ich mich an. Gegen sechs Uhr rief eine Freundin an und sagte mir, dass der Flughafen bombardiert worden sei. Ich klopfte bei meinen Verwandten, die im selben Haus wohnten, an die Tür, und die nächsten Stunden verbrachten wir mit Warten. Wir wussten nicht wirklich, was wir sonst hätten tun sollen. Irgendwann gingen wir in den Supermarkt zum Einkaufen. Als wir die ersten Schießereien auf der Straße hörten, versteckten wir uns im Keller. Es gibt genügend Luftschutzbunker in Kiew, allerdings trauten wir uns nicht hinaus auf die Straße, um die paar Blocks dorthin zu laufen. Ich begann, meine Freunde in Kharkiv anzurufen und ihnen zu sagen, dass sie nach Kiew kommen sollten.
Und deine Familie?
Meine Eltern sind in dem kleinen Ort außerhalb Kiews geblieben, in dem ich geboren wurde. Mein Vater ist krank, er hat Krebs im Endstadium, aber keine Angst. Er ist ein sehr mutiger Mann und versucht, meine Mutter aufzuheitern, die nicht so gut mit der Situation umgehen kann. Er spielt ihr auf der Gitarre vor und macht Witze. Zusammen helfen die beiden den Flüchtlingen aus der Ostukraine, von denen es im Zentrum des Landes sehr viele gibt.
Wie bist du schließlich geflüchtet?
Ich wartete auf meine Freunde aus Kharkiv, die das Land verlassen wollten und mir von den Panzern berichteten, die sie auf dem Weg zu mir gesehen hatten. Aber so wie es bereits lange Warteschlangen an den Geldautomaten gab, war auch der Treibstoff begrenzt: Nur 20 Liter pro Auto wurden ausgegeben, damit kam man nicht weit. Also beschlossen wir, wohl oder übel bis zum Morgen des 25. Februar zu warten, um Kiew zu verlassen. Ich saß immer noch im Keller, als sie nochmal anriefen und sagten: „Nataliia, wir fahren jetzt oder nie. Du hast 15 Minuten, um dich zu entscheiden, ob du mitkommen willst.“ Also schnappte ich mir meine Notfalltasche und meinen Laptop und sie holten mich ab.
Die Fahrt bis zur polnischen Grenze dauert normalerweise acht bis zehn Stunden. Aber wir waren nicht die Einzigen auf der Flucht und so kamen wir teilweise nur sehr langsam voran. Wir passierten Panzer, Militär, die ersten Straßensperren. Später, außerhalb der Hauptstadt, sahen wir geplünderte Tankstellen und verlassene Autos am Straßenrand. Meine Verwandten riefen mich an und versicherten mir, dass ich das Richtige getan hätte. In Kiew gab es bereits kein Benzin mehr und sie saßen fest. Wir waren sieben Personen in zwei Autos und verbrachten fünf Tage im Verkehrschaos mit Drohnen, die über uns schwebten und uns in Angst versetzten, weil wir eine hervorragende Zielscheibe abgaben im Stau. Wir lebten praktisch im Auto in diesen fünf Tagen, die ersten zwei davon ohne zu schlafen, ohne zu essen oder zu trinken, wir wollten nur weiter, weiter, weiter. Und wurden fast verrückt, weil wir nicht vorankamen. Draußen Menschen, die sich neben ihren Autos auf der Straße die Zähne putzten, und andere, die in der Umgebung wohnten und uns Essen brachten, das wir in den umliegenden Wäldern zubereiteten. Nach einiger Zeit gaben wir den Leuten, die in der Gegend wohnten, Geld, um bei ihnen im Haus zu duschen.
Hast du Kontakt zu deinen Eltern?
Jeden Morgen rufe ich sie an und frage meinen Vater: „Lebst du noch?“ Und er: „Ja.“
Ein Wohnhaus in Kiew unweit Kyrychenkos Apartment, wenige Tage nach Kriegsausbruch. Die Hälfte der Wohnung ihrer Arbeitskollegin wurde weggebombt. Sie hatte gerade einen Kredit aufgenommen. © Nataliia Kyrychenko
Wie ist die aktuelle Lage in Kiew?
Glaubt man den Nachrichten, besser als vor ein paar Tagen. Aber laut meinen Freunden, die dortgeblieben sind, nicht. Essen und Medikamente sind knapp. Jeder hat diese App, die über Luftangriffe informiert wie ein Sirenenalarm. Einige meiner Freunde sagen, sie würden die App ab und zu einfach ausmachen, um ein wenig zu schlafen. Eine Bombe hat die halbe Wohnung meiner Arbeitskollegin weggerissen. Aber ich weiß jetzt, wie man sich bei Bombenalarm verhält: Man muss immer die zweite Wand suchen. Also nicht die, wo die Bombe einschlägt, weil man sonst zwischen ihr und der nächstgelegenen Wand eingeklemmt wird, sondern hinter eben dieser zweiten Wand Schutz suchen. Auch hilft uns unser ganz eigener Humor sehr. Einer meiner Freunde schrieb mir vor kurzem, als die Bombardierung auf seinen Standort nachgelassen hatte und nicht mehr viel zu hören war: „Wahrscheinlich bombardieren sie jetzt den Wald.“
Hast du diese Entwicklung kommen sehen? Ist es Putins Krieg oder doch der Russlands?
Ich hätte nie mit einem Konflikt in diesem Ausmaß gerechnet. Ich bin immer noch der Meinung, dass es Putins Krieg ist, aber es zirkuliert einfach viel Propaganda. Ich habe Verwandte in Russland. Natürlich wollen sie nicht, dass Menschen sterben, aber sie sind von den dortigen Medien beeinflusst. Ich denke, viele Russen glauben Putin.
Bist du nicht wütend? Auf den Rest der Welt, der zusieht?
Nein. Ich weiß zu schätzen, was Länder wie Deutschland, Italien und Polen für uns tun. Sie helfen.
Fühlst du dich hier sicher?
Flugzeuggeräusche jagen mir immer noch Angst ein. Ich habe es zwei Wochen lang nicht geschafft, meinen Koffer auszupacken. Ich hatte nicht erwartet, traumatisiert zu sein, aber wenn ich die Sirenenprobe am Samstag höre, erschrecke ich jedes Mal.
Warteschlange vor den Geldautomaten am 24. Februar 2022 © Nataliia Kyrychenko

SPEAK

15 minutes to decide (eng)

// Bettina Conci //
Nataliia Kyrychenko, 37, was born in small town near Kyiv, but has lived in the capital of Ukraine for many years. She has an education as an English teacher and used to work with kids aged 6 to 15 in private classes. On February 24, she had to leave and is now living in South Tyrol with her sister and her 7-year-old niece.
„Why should I be angry at someone? I am grateful for everyone who helps.“ © Nataliia Kyrychenko


You were in Kyiv when the war started. Can you tell us about the events of 24 February?


On 16 February we still didn’t expect the Russians to invade Ukraine. I remember friends from the United States calling me and begging me to escape, but to us, a war didn’t seem a possible scenario. On 20 February we were still at our workplace, joking among colleagues about this war everyone was talking about. We were expecting something like in 2014, which was nothing like what was about to happen. On 24 February, I had slept with an open window, there was a loud sound like from an explosion. I woke up, it was half past four in the morning, and I remember thinking: “Oh, is this the war?” I still wasn’t sure, I remember a dog barking, and when I saw the sky which was not grey like a normal sky in a big city would be, but red and white and full of strange lights, it dawned on me. A part of me finally realized that it meant war.

What did you do?


My emergency bag was already packed, and I got dressed. About six in the morning, a friend called, telling me that the airport had been bombed. I live close to the city’s other airport, so I thought, okay, I was lucky, the next airport could be this one. I went to tell my cousins who live in the same building, and for a couple of hours we were just waiting. We didn’t really know what to do, so we went to the shop and bought some groceries. Then we heard shooting in the streets, and we went down to the basement. There’s a lot of bomb shelters in Kyiv, but we were too scared to get outside and run the distance of a few blocks. I started to call my friends who lived in Kharkiv and told them to come to Kyiv. When they asked me what I was planning to do, I said I would leave and go to Europe.

What about your family?


My parents still live in the small town near Kyiv where I was born. They stayed there. My father is ill, he has terminal cancer, but he is not scared. He’s a very brave man. He tries to cheer up my mother who is not coping so well, he plays the guitar to her and makes jokes. Together they help the refugees from Eastern Ukraine. There are a lot in the central area of the country.

How did you get out?


I waited for my friends from Kharkiv who wanted to leave, and they told me they had seen the tanks on the way to Kyiv. The problem was the fuel. There were already long queues at the ATMs, and you were allowed only 20 litres of fuel. So, we decided to wait and leave in the morning of 25 February. It would have been an 8-10-hour-ride to Poland. I was still hiding in the basement, when they called again, in a hurry. And they said, now or never. We are leaving, you have 15 minutes to decide if you want to come with us. So I took my emergency kit and my laptop, and they picked me up.

It took forever. We got stuck in traffic jams all the time, moved forward only 13 kms in 3 days, we saw tanks and military passing, the first roadblocks. Later, outside the capital, there were petrol stations raided in search of fuel, cars abandoned at the curb. My relatives called to tell me I had done the right thing, Kyiv had already run out of fuel, so they were stuck. We spent five days in traffic chaos, just driving, seven people in two cars. Some of my friends were Ukrainians, others were foreigners from Nigeria with a permit to stay in Ukraine – so they were allowed to leave. We basically lived in the car for the following five days, the first 48 hours without sleeping, no food, no water, we just wanted to go, go, go. And when you’re stuck in traffic most of the time it is unnerving. We brushed our teeth on the highway, people living in the territories we crossed came and brought us food, some people prepared the food in the surrounding woods. Drones were hovering above us, and they made us feel uncomfortable because we feared that they would attack us. After a couple of days, we felt quite dirty, so we gave the locals money to take a shower at their houses.

Do you hear from your parents?


Every morning I call my parents and ask my father: “Are you alive?” And he’s like, “Yes.”

A residential building near Kyrychenko’s apartment, a couple of days after 24 February. Half of her colleague’s apartment has been bombed. She just had taken out a loan. © Nataliia Kyrychenko
How is the current situation in Kyiv?


According to the news, it is getting better. But according to my friends who stayed there, it is not. There’s food and medicine shortages. Everyone has this app that informs you of the air raids, like the sirens. Some of my friends half-jokingly said they’d turn it off to sleep at least a little while. I used to work with a woman who lived nearby. She had just taken out a loan, and she and her family were lucky: they were all in the hallway when the bombs hit and took away half of the flat. But I learned how to avoid dying from a bomb: you must look for a second wall, not hide behind the first one – so the second wall absorbs the impact from the first wall crushing against it and you’re safe. Our sense of humour helps, too. A friend of mine wrote to me, referring to the bombing that had diminished or at least couldn’t be heard as loud as before: “They’re probably bombing the woods now.”

Did you expect this to happen? Is it Putin’s or the Russians’ war?


When my employer asked me some time ago if there would be a war, I answered yes. But I wouldn’t have thought to this extent. People in Kyiv are quite well-informed, but outside, in the rural areas, people have more prejudices. I still think it is Putin’s war, but there’s a lot of propaganda going on. I have relatives in Russia. Of course, they don’t want people to die, but they are heavily influenced by Putin’s propaganda. And I think a lot of people believe him.

Don’t you get angry at the rest of the world that’s just watching?


No. I appreciate what countries like Germany, Italy and Poland do. They help.

Do you feel safe where you live now?


I am still afraid of jet sounds. I haven’t been able to unpack my suitcase for two weeks. I didn’t expect to be that traumatized, but still, when I hear the test alarm of the siren here every Saturday, I am terrified.

Queue at the ATM on 24 February 2022. © Nataliia Kyrychenko