Respekt

Sie sind der Schlüssel

// Kathinka Enderle //
Eigentlich weiß unsere Gesellschaft, wie sie sich respektvoll verhalten kann. Und trotzdem kommt der Respekt immer öfters abhanden.
© istockphoto
Es war ein Freitagabend. Die Schlange an der Supermarktkasse wurde länger. Jugendliche, die freudig lachten und kaum die nächste Party erwarten konnten; ein Geschäftsmann, der auf seinem Handy tippte und endlich nach Hause wollte; eine Mutter, die mit ihrem Neugeborenen alle Hände voll zu tun hatte und ein Pärchen, das sichtlich gerade vom Sport kam – alle warteten geduldig auf den alten Herrn an der Kasse, der versuchte, seine Lebensmittel in die Einkaufstasche zu packen. Seine Hände zitterten, auf seinen Gehstock konnte er sich kaum noch stützen und Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Während die wenigsten großartig auf den alten Mann achteten, schaute die Kassiererin zu sehr auf sein Verhalten. Kurzerhand sprang sie von ihrem Stuhl auf, riss ihm seine Tasche aus der Hand und zischte ihn an: „Das Geschäft schließt bald und wir haben nicht den ganzen Abend Zeit! Ich will Feierabend machen.“ Sie packte seinen Einkauf energisch ein, achtete nicht darauf, ob sie Essen zerdrückte und schmiss ihm die Tasche wieder zurück.
Während sich der alte Herr mit gekrümmter Körperhaltung davon machte und die gesamte Einkaufsreihe schockiert darüber war, was da gerade passiert war, kaute die Kassiererin gemütlich auf ihrem Kaugummi herum und setzte ihre Arbeit fort.
Respektlosigkeit ist kein Einzelfall
Meist liest man über solche Vorfälle wie den geschilderten aus dem Supermarkt mit einer Wut im Bauch und einem Kopfschütteln. Man versucht diese Geschichten in eine Schublade zu stecken, denkt sich, es wäre ein Einzelfall und geht seinem Alltag wieder nach. Doch denken Sie weiter: Wie viele Anekdoten aus dem Alltag können Sie erzählen, in denen Sie Respektlosigkeit beobachtet oder vielleicht sogar selbst erfahren haben?
Überlegen wir gemeinsam: Wie oft drängelte sich jemand schon vor Sie und warf Ihnen womöglich sogar noch ein freches „chill doch“ zu? Wann hupte das letzte Mal jemand hinter Ihnen, weil Sie an der grünen Ampel nicht schnell genug losfuhren? Wann schnappte Ihnen jemand den Parkplatz vor der Nase weg? Oder vielleicht den Sitzplatz im Bus? Wie oft rempelten Sie Menschen beim Feiern an, ohne dabei auf die Umgebung zu achten oder ob jemand verletzt werden könnte? Wann hörten Sie das letzte Mal, wie sich Kinder und Jugendliche gegenseitig beleidigten? Und noch schlimmer, wann wurden Sie zuletzt beleidigt oder gar belästigt?
Man nimmt an, dass die Menschen in unserer Gesellschaft wissen, wie sie sich untereinander verhalten sollten. Und trotzdem kommt der Respekt immer öfters abhanden.
Respekt ist Einstellungssache
In den vergangenen und gegenwärtigen Generationen geht Respekt Hand in Hand mit einer neuen, vielfältigeren Gesellschaft. Ein respektvolles Verhalten ist für unsere Gesellschaft von grundlegender Wichtigkeit, damit wir als Menschen wachsen und gedeihen können. Respekt entsteht nicht, weil man bei jeder Kommunikation seinen Mitmenschen mitteilt: „Respektiere mich!“, sondern weil es die korrekte Einstellung gegenüber anderen Menschen ist.
In der Psychologie wird zwischen zwei Arten von Respekt unterschieden:
Es gibt einerseits den vertikalen Respekt, den man Menschen für besondere Leistungen gebührt, beispielsweise für den Sieg einer begehrten Trophäe oder einen akademischen Abschluss. Viel wichtiger ist aber der horizontale Respekt, der die Achtung vor seinen Mitmenschen meint. Sprich, dass man andere so behandelt, wie man selbst behandelt werden möchte.
…und eine wertvolle und ehrenhafte Eigenschaft
Respekt ist eine wertvolle und ehrenhafte Eigenschaft, die in so ziemlich jeder Interaktion mit dem Leben zu tragen kommt – sei es persönlich, online oder auch mit Tieren, Gegenständen und Pflanzen. Dabei setzt Respekt vor Lebewesen den Frieden voraus und fördert ihn zugleich. Wahrer Friede ist nicht nur die Abwesenheit von Krieg und die Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts der Kräfte zwischen Gegnern. Frieden kann nicht erreicht werden, wenn der Schutz der Person, von Gütern, die freie Kommunikation, die Achtung der Würde eines Menschen sowie von Völkern als auch die beharrliche Umsetzung von Geschwisterlichkeit gewährt wird. Unsere chaotische Welt ruft uns immer dringlicher dazu auf, inmitten der gegenwärtigen Bedrohungen des Friedens und des Respekts voreinander ein empathisches Verhalten an den Tag zu legen.
Jede*r hat Anspruch auf Respekt
Jeder Mensch sollte unabhängig seiner ethnischen Zugehörigkeit, seinem Platz in der Gesellschaft, seinem Geschlecht, Alter, der Religion oder Hautfarbe Anspruch auf Respekt haben. Die Idee, sich Respekt verdienen zu müssen, ist zwar weit verbreitet, jedoch nicht ganz unproblematisch. Wenn es dem Einzelnen eine Last aufbürdet, sich selbst beweisen zu müssen, anstatt ihm seinen innewohnenden Wert und seine Würde als Menschen anzuerkennen, wird das Ziel von Respekt weit verfehlt. Jede*n zu respektieren bedeutet nicht, dass wir jede*n mögen müssen, sondern viel mehr, dass wir jede*n mit Höflichkeit und Anstand behandeln sollten.
Ohne Respekt können Menschen anders behandelt werden und wurden auch schon anders behandelt, nur weil sie so sind, wie sie sind.
Ansichten, Kulturen und Generationen sind eine Bereicherung
Denken Sie an den alten Mann. Vermutlich war es ihm wichtig, in seinem hohen Alter seine Einkäufe noch selbstständig zu erledigen. Stellen Sie sich vor, wie es ihm nach dieser Erfahrung ging. Er wurde übergriffig und respektlos behandelt, nur weil er so ist, wie er eben ist: aufgrund seines hohen Alters etwas langsamer und schwächer.
Obwohl es sich im Falle des Herrn und der Kassiererin um eine Situation handelt, die sprachlos macht, zeigt es Südtirols Vielfältigkeit. Wir leben in einer Provinz voller Menschen mit unterschiedlichen Ansichten, Kulturen, die uns bereichern, und Generationen, die sich unterscheiden. Wie ist es für Sie, wenn Sie sich mit Menschen mit unterschiedlichen Ansichten, verschiedener Generation oder unterschiedlicher Herkunft unterhalten? Gelingt es Ihnen, in Ihrem eigenen Verhalten und dem Ihres Gegenübers zu beobachten, wie wenig Vorurteile oder gar Feindschaften man rechtfertigen kann?
Respekt ist der Schlüssel für ein gutes Miteinander
Soziolog*innen, Politiker*innen und Wissenschaftler*innen setzen sich seit Jahren mit der Frage auseinander, wie wir als Gesellschaft ein gutes Miteinander gestalten können, sodass der Zusammenhalt, Respekt und die Empathie zwischeneinander wieder gestärkt werden können. Der Einsatz jeder Einzelperson ist dafür überaus wichtig, denn jede*r Einzelne zählt und kann der Schlüssel sein, damit sich ein anderer Mensch besser, respektiert und gesehen fühlt.
Nelson Mandela sagte einst: „Frei zu sein bedeutet nicht nur, seine eigenen Fesseln zu lösen, sondern ein Leben zu führen, das auch die Freiheit anderer respektiert und fördert.“
Welchen Beitrag können Sie leisten, um nicht nur sich selbst gegenüber frei zu sein, sondern auch für ein gutes Miteinander zu sorgen?
Wie ist es für Sie, wenn Sie sich mit Menschen mit unterschiedlichen Ansichten, verschiedener Generation oder unterschiedlicher Herkunft unterhalten? © Alexandre Debiève / Unsplash

Respekt

Kolumne: Hört auf, uns umzubringen!!!

// Alexandra Kienzl //
Femizide sind eine Kapitulation. Schauen wir uns die Täter an.
Hört auf, uns umzubringen, weil ihr nicht mit uns zurechtkommt. Weil ihr nicht verkraften könnt, dass wir unseren eigenen Kopf haben. Weil ihr nicht versteht, wieso wir uns von euch trennen wollen. Weil ihr nicht damit klar kommt, dass wir eigenständige Persönlichkeiten sind und nicht euer Besitz. Weil ihr eure Eifersucht nicht im Griff habt, wenn wir neue Partner haben. Hört auf, uns weh zu tun, weil ihr euch provoziert fühlt, durch das, was wir sagen. Weil euch nicht gefällt, wie wir uns kleiden. Weil ihr nicht damit fertig werdet, dass wir nicht das tun, was ihr von uns wollt.
Bei Femiziden, diesen viel zu vielen Fällen von Frauenmorden durch den Partner, Ex-Partner oder sonst ein Familienmitglied, durch einen Bekannten, flüchtig oder vertraut, steht immer noch viel zu sehr die Frau im Mittelpunkt. Natürlich, sie ist das Opfer, aber entgegen häufiger Berichterstattung geschieht der Mord nicht, weil sie etwas getan hat. Eine Frau stirbt nicht, weil sie den Mann gereizt, betrogen oder einfach nur genervt hat, weil sie ihn verlassen wollte oder das Essen auf dem Tisch nicht mehr warm war. Die Frau stirbt, weil ein Mann nicht imstande war, auf einen von ihm als Problem wahrgenommenen Umstand anders als mit roher Gewalt zu reagieren. Und Gewalt ist niemals eine angemessene Reaktion, außer es handelt sich um Notwehr. Dass ein Mann aber angibt, er habe die Frau getötet, weil er um sein eigenes Leben fürchtete, das hört man eigentlich nie.
Vielmehr sind die Gründe, einige der häufigsten sind oben angeführt, solcherart, dass man sich denkt: Welche Vorstellung von Partnerschaft, von einer Beziehung hat ein Mann, der so reagiert? Was ist sie für ihn, diese Frau an seiner Seite? Ein Spielzeug, das man wegwirft, wenn es nicht mehr gefällt? Ein kostbares Ding, aber eben ein Ding, das man nicht aus seinem Besitz geben will? Ganz gewiss ist es keine Beziehung, die auf Augenhöhe geführt wird und von gegenseitigem Respekt und Wertschätzung geprägt ist. Ganz gewiss wird die Frau nicht als autonomes Wesen mit ihren eigenen Wünschen, Ideen, Vorstellungen respektiert, sondern als zu unterjochende Kreatur wahrgenommen, deren Freiheitsstreben unterdrückt werden muss, über die Macht ausgeübt werden muss. Auch um nach außen hin das Bild eines starken Mannes zu wahren, der „seine“ Frau unter Kontrolle hat. Dabei drückt physische Gewalt gar keine Macht aus: Es ist das bloße Ausspielen von körperlicher Überlegenheit, ein Zeichen von Ohn-Macht. Der Täter ist, wie bereits erwähnt, nicht imstande, einen von ihm wahrgenommenen Konflikt auf produktive Weise zu lösen, mit Worten oder auch mit Taten, die die Frau unversehrt lassen. Er „löst“ den Konflikt, indem er die Verursacherin (in seinen Augen) auslöscht. Es ist eine Kapitulation vor dem eigenen Unvermögen, kein Sieg.
Es soll dies keine Rechtfertigung sein: Überforderung ist keine Verteidigung, keine Entschuldigung. Aber wir müssen den Fokus viel mehr auf die Männer und ihre Probleme verschieben, anstatt zu titeln: „Schon wieder ein Frauenmord!“, als müsse man eben hinnehmen, dass Femizide immer wieder einfach „passieren“. Hinter jedem Frauenmord steckt ein Mann, bei dem einiges falsch gelaufen ist. Der aber die Wahl gehabt hätte. Anders zu reagieren. Die Eskalation zu vermeiden. Deshalb: Arbeitet an euch. Hinterfragt eure Rollenbilder. Redet darüber. Geht in Therapie. Aber hört, verdammt nochmal, damit auf, uns umzubringen.