Young
Basta Suedtirol0!
// Kathinka Enderle //
Was als spontaner Impuls begann, wurde zu einer kraftvollen Stimme. Ende Oktober saß Julia-Luna Cappelletto im Zug und las in einer Facebook-Gruppe von Giséle Pelicot, einem Übergriff auf ein minderjähriges Mädchen in Bozen, sowie von einem Feminizid in Norditalien. Sie dachte an ihre eigene Erfahrung: Als sie 15 war, wurde sie im Bus belästigt. „So viele von uns hatten mindestens ein solches Erlebnis. Eine von drei. Ich – du – du.“

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Wenn Schweigen keine Option mehr ist
Dabei fiel Julia-Luna Cappelletto auf: In den Medien schaffen es meist nur die extremen Fälle in die Schlagzeilen. Die alltäglichen Übergriffe? Fast schon „normal“. Doch sie hinterlassen tiefe Spuren – auch das erlebt sie als Hebamme immer wieder im Kontakt mit traumatisierten Frauen. Aus diesem Gefühl heraus entstand eine Idee. Julia teilte ihre Geschichte öffentlich, erstellte ein Formular und rief andere Frauen auf, ihre Erfahrungen mitzuteilen. Innerhalb kürzester Zeit kamen rund 80 Berichte zusammen. Daraus wuchs eine Arbeitsgruppe aus sechs weiteren Frauen, die den Social Media Account @basta.suedtirol0 gründeten. Dort werden seither anonymisierte Geschichten von Betroffenen veröffentlicht – ein digitaler Raum für Sichtbarkeit, Solidarität und Aufklärung.
Südtirols blinde Flecke
Schnell merkte Julia, wie belastend das Lesen dieser Geschichten ist. Mittlerweile weiß sie, was sie braucht, um nicht auszubrennen. Ein Leitsatz hilft ihr: „Schau auf die Guten, mein Kind.“ Sie konzentriert sich auf die positiven Entwicklungen – ohne das Schwere auszublenden.
Gleichzeitig betont sie: Südtirol hält sich für progressiv, aber gesellschaftlich gibt es große blinde Flecken. Die dörfliche Struktur, traditionelle Rollenbilder und kirchlicher Einfluss sorgen dafür, dass man sich möglichst anpasst, nicht auffällt – und schweigt. „Das macht nicht nur die Opfer mundtot. Es macht das feministische Arbeiten auch schwer. Man braucht viel Selbstbewusstsein, etwas Mut und natürlich muss man es sich auch erstmal leisten können.“
Strukturelle Gewalt sei so alltäglich geworden, dass viele sie gar nicht mehr wahrnehmen. Viele Frauen berichten, dass ihre Erlebnisse verharmlost wurden – oft auch von anderen Frauen. Sätze wie „Stell dich nicht so an“ oder „Erzähl das niemandem“ sind keine Ausnahme. Die Scham trifft oft die Falschen: das Opfer statt den Täter.
Ein System durchbrechen – gemeinsam
Veränderung beginnt im Kleinen – bei sich selbst, im Umfeld, bei den eigenen Kindern. Gewalt beginnt nicht erst bei Vergewaltigung, sondern viel früher: Wenn Mädchen lernen, still zu halten, zu gefallen, nicht aufzufallen. Wenn sie beigebracht bekommen, nett statt selbstbewusst zu sein. Diese Muster setzen sich fort – in Beziehungen, in der Schule, beim Arzt. Julia ist überzeugt: Mädchen sind am besten geschützt, wenn sie lernen, sich abzugrenzen, sich zu wehren, Hilfe zu holen. Das verhindert Gewalt zwar nicht komplett, aber es macht einen Unterschied. Gleichzeitig müsse man bei den Jungen ansetzen: „Statt Mädchen zu sagen, sie sollen aufpassen, sollten wir Jungs beibringen, wie man mit Emotionen umgeht.“ Es brauche mehr Väter, Männer, Vorbilder, die diesen Kreislauf durchbrechen. Doch gerade männliche Stimmen fehlen oft in der Debatte. „Wo sind sie? Warum werden sie nicht laut?“ Es erfordere Reife, Selbstreflexion und Demut, sich mit der eigenen Rolle im System auseinanderzusetzen. Nicht in die Defensive gehen („Aber nicht alle Männer...“), sondern Verantwortung übernehmen: „Ja, Männer haben viel Mist gebaut – und ich bin Teil dieses Systems. Aber ich kann es anders machen.“
Das sei Julias Wunsch – für Frauen und Männer gleichermaßen: mehr Bewusstsein, mehr Mut zur Veränderung – und mehr Miteinander.
Südtirols blinde Flecke
Gleichzeitig betont sie: Südtirol hält sich für progressiv, aber gesellschaftlich gibt es große blinde Flecken. Die dörfliche Struktur, traditionelle Rollenbilder und kirchlicher Einfluss sorgen dafür, dass man sich möglichst anpasst, nicht auffällt – und schweigt. „Das macht nicht nur die Opfer mundtot. Es macht das feministische Arbeiten auch schwer. Man braucht viel Selbstbewusstsein, etwas Mut und natürlich muss man es sich auch erstmal leisten können.“
Strukturelle Gewalt sei so alltäglich geworden, dass viele sie gar nicht mehr wahrnehmen. Viele Frauen berichten, dass ihre Erlebnisse verharmlost wurden – oft auch von anderen Frauen. Sätze wie „Stell dich nicht so an“ oder „Erzähl das niemandem“ sind keine Ausnahme. Die Scham trifft oft die Falschen: das Opfer statt den Täter.
Ein System durchbrechen – gemeinsam
Das sei Julias Wunsch – für Frauen und Männer gleichermaßen: mehr Bewusstsein, mehr Mut zur Veränderung – und mehr Miteinander.
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Eigene Erlebnisse können über dieses Formular geteilt werden: forms.gle/YYAuc6maG7948emb8
Alle Geschichten werden anonym veröffentlicht.