Ich kann mich noch gut zurückerinnern, als ich als kleines Kind mit meinen engen Freundinnen Laura und Marie Familie gespielt habe: Mutter, Vater, Kind. Glücklich und verheiratet, mit einer guten Arbeit, einem eigenen Haus mit Garten und Haustieren. Das war immer das Ideal, das wir uns vorgestellt haben. Für Laura hat sich das bald geändert. Ihre Eltern trennten sich und ihre Mutter war bald alleinerziehend. Oft grübelten wir gemeinsam: Ist Lauras Familie noch eine Familie? Jetzt, wo es nur noch sie und ihre Mutter gibt?
Auch Maries Familie sollte sich verändern. Als ihre Mutter einen anderen Mann kennenlernte, erstritt sich Maries Vater das Sorgerecht um sie. Nach der Trennung von Maries Mutter wollte er keine neue Frau mehr. „Warum nicht Single sein? Man ist gut allein aufgehoben“, sagte er immer wieder. War es die Depression, die ihn nach der Trennung seiner Frau begleitete, oder tatsächlich die Zufriedenheit, die sich mit dem Allein-Sein einstellte?
Die Familie, so stellten wir es uns zumindest immer in unseren Spielen vor, war eine Absicherung für das Glück im Leben. Jedes Mitglied hatte seine Aufgabe und seine Rolle. Die Mutter sorgt für das Familienwohl und das Leben zu Hause in den vier Wänden. Die Kinder gehen zur Schule, machen eine Ausbildung oder studieren und arbeiten dann, sobald es geht. Der Vater arbeitet und bringt das Geld nach Hause, sodass die Familie ernährt wird.
Mit der Zeit, je mehr Jahre vergingen und je älter ich wurde, desto mehr veränderte sich das Familienbild. Die verschiedensten Beziehungen sind möglich, sodass man nicht mehr von einem „Schwarz-Weiß-Denken“ reden kann und der Begriff „Familie“ dem klassischen Familienbild, das auch in den 1950er-Jahren noch propagiert wurde, nicht mehr entspricht. Trotzdem ist die Familie das, was jeder Mensch als Erstes sieht, sobald man die Augen in unserer Welt nach der Geburt aufmacht. Trotz des grellen Lichtes im Kreißsaal oder den vielen anderen Umgebungen, in denen Mütter ihre Babys zur Welt bringen, ist dort immer ein liebender Mensch, der einen in der Welt begrüßt.
Trotz all den Veränderungen, die unsere schnell-lebige Welt mit sich bringt, sollte die Familie ein Ort des Schutzes sein – ein geborgener Raum, in den man sich immer zurückziehen darf, sobald das Leben zu chaotisch wird. Sie sollte das Grundgerüst und Fundament sein, das uns erlaubt, unser Leben aufbauen zu können. Durch das wir unterstützt und gefördert werden. Vor allem aber sollte sie ein Gefühl der Geborgenheit sein – egal ob in einer Partnerschaft, in der Ehe, zu zweit, mit Adoptivkindern oder Stiefgeschwistern. Die Inklusion, das Sichtbarmachen verschiedener Familienformen, ist wichtig, damit alle Familien gleichberechtigt an unserer Gesellschaft teilhaben können – und das von Anfang an. Trotzdem werden Familien mit wenig Einkommen, Regenbogenfamilien, Adoptiveltern, Alleinerziehende, Familien mit beeinträchtigten Angehörigen oder aus dem Ausland stammende Familien immer noch weniger beachtet als jene, die dem „klassischen Familienbild“ entsprechen.
Die Geschichten von Jakob, Sofie und Christian
Jakob, Sofie und Christian gehen miteinander in eine Klasse. Sie spielen mit Legobausteinen, Puppen, Autos und freuen sich immer, wenn sie mit ihren Familien den Spielplatz besuchen – vor allem dann, wenn sie sich dort wiedersehen können. Neben all dem, was sie in der Schule lernen, lesen sie in ihrer Freizeit Bücher über magische Welten, zeichnen, sehen sich Kinderfilme und -serien an und mögen Brettspiele. Alle drei Kinder leben in unserer Gesellschaft. Sie alle haben eine Familie, doch keine davon wird als klassisches Familienbild angesehen – weder die Familie von Jakob noch die von Sofie oder Christian.
Jakob lebt in einer Patchworkfamilie. Seine Eltern haben sich kurz nach seiner Geburt getrennt und neue Familien gegründet. Jakobs Mutter hat zwei weitere Kinder bekommen, Jakobs Vater hingegen heiratete eine Frau, die bereits drei Kinder mit in die Ehe brachte, und zeugte mit ihr schließlich noch ein weiteres. Jakob liebt die Vielfalt, die es in seiner Familie gibt. Egal bei welchem Elternteil er ist, es gibt immer jemanden, mit dem er spielen kann. Wenn sich allerdings beide Eltern mit allen Kindern gemeinsam treffen, in einem Restaurant oder auf dem Spielplatz, bemerkt Jakob komische Blicke. Er versteht sie noch nicht. Für ihn sind das alles seine Geschwister, es ist seine Familie – groß und kunterbunt.
Sofie lebt mit ihrer Mutter zu zweit, nachdem sich diese von Sofies Vater wegen seines exzessiven Alkoholkonsums getrennt hat. Sofie erzählt, dass ihre Oma immer davon spricht, wie Sofies Mutter „ihr Weltbild zerstört“ hätte. Was das bedeutet, weiß Sofie nicht. Manchmal vermisst sie ihren Vater, besonders wenn die Kinder zum Vatertag Kärtchen in der Schule basteln. Sie erzählt, wie sie brav Karten verziert, auf denen „Alles Gute zum Vatertag! Ich hab dich lieb“, steht, wobei sie ihren Vater kaum mehr sieht. Aber Sofies Mutter übernimmt beide Rollen und versucht Sofies Leben so schön und sorgenfrei wie nur möglich zu gestalten. Ihre Mama wird von ihren eigenen Geschwistern und ihren Freund*innen unterstützt. Mittlerweile sieht Sofie auch die Freund*innen ihrer Mutter als Tanten und Onkel an. Über ganz viele Geschenke zu ihrem Geburtstag und an Feiertagen freut sie sich am meisten.
Christian wurde adoptiert. Ursprünglich kommt er aus Osteuropa, über seine Adoption weiß er Bescheid. Für ihn sind seine Eltern trotzdem seine Eltern. Seine leiblichen Eltern lernte er nie kennen. Blöde Kommentare kennt er, aber verstanden hat er sie nie. Er genießt es zu wissen, dass sich seine Eltern bewusst für ihn entschieden haben. Was andere darüber sagen, dass er kein leibliches Kind ist, das zusätzlich noch aus dem Ausland kommt, macht ihm nichts aus. Er sieht sich als kleiner Südtiroler, der gerne Schürzen vom Bauernbund und Lederhosen trägt.
Hannah und ihre Wahlfamilie
Familien sind unsere soziale Mitte. Unterstützung und Verantwortung, wie Jakob, Sofie und Christian sie erfahren, sind Werte, die nicht in jede Familie integriert werden. Hannah musste diese schmerzhafte Erfahrung machen. Für sie war ihre Familie wie eine geschlossene Festung, aus der sie nach jahrelangem Kummer und Schmerz ausbrechen musste. Öffnet man die Box, die das Innere ihrer Familie so gut wie möglich zu verbergen und verschließen versuchte, fand man die Schattenseiten der Seelen: Verrat, Gewalt, Misshandlung – Hass, der in den verschiedensten Formen zum Ausdruck gebracht wurde. Besonders die Coronapandemie sorgte für Dimensionen der Gewalt, die man sich nicht vorstellen mag. Für die Familie, aus der Hannah stammt, schämt sie sich. Nach außen repräsentierten sie ein idyllisches Familienleben und spielten die Rolle der perfekten Familie makellos. Freunde, die sie besuchten, kamen gerne wieder und verehrten Hannahs Familienmitglieder nahezu. Doch auch die vermeintlich glücklichsten Menschen können ihre Konflikte und die Zwietracht hinter einem glänzenden Lächeln verbergen. Als Hannah ihre Familie verließ und sich dagegen entschied, länger über die Gewalt, unter der ihre Psyche und ihr Körper litten, zu schweigen, war ihr Umfeld schockiert. Das Gefühl, dass man einem nicht glaubt, verfolgte sie noch lange. Nachdem sie sich Hilfe suchte und in eine betreute Wohneinrichtung kam, konnte sie die jahrelangen Traumata aufarbeiten. Jetzt, zwei Jahre nachdem sie von Zuhause wegkonnte und von ihrer Familie spricht, meint sie ihre Wahlfamilie. Freunde, die sie nach ihrem Schicksal kennen und schätzen lernte, durch die sie unterstützt und geliebt wird, zählen nun zu ihrer Familie. Zwar sind sie nicht durch Blut verbunden, doch durch das, was wirklich zählt: Liebe und Zusammenhalt.
„Die Familie ist die Heimat des Herzens“ – Giuseppe Mazzini
Das Familienbild befindet sich im Umbruch. Durch die Geschichten von Jakob, Sofie und Christian konnten wir herzerwärmend erfahren, wie neue, lebbare Räume voller Liebe und Zusammenhalt geschaffen werden können. Gleichzeitig lässt sich durch Hannahs Schicksal mit ihren Angehörigen erkennen, dass Blut nicht gleich Familie bedeutet und man trotz der Distanz zur Kernfamilie seinen eigenen Weg finden kann, auf dem auch an Liebe und familiären Gefühlen nicht gespart wird. Unsere Welt ist weder schwarz noch weiß, sondern ein bunter Mix aus Zwischentönen und verschiedenen Farben, in die man erst einmal hineinwachsen muss. Jede Generation darf sich und das eigene Familienbild neu erfinden, den Pinsel schwingen und das eigene Bild kreieren. Familie bedeutet Bewegung: wie bei einem Bungeejump darf man die Augen zumachen, sich fallen lassen und wird aufgefangen. Das Schöne an unserer heutigen Zeit ist, dass die Form, in der das geschieht, frei wählbar ist. Schließlich ist das Wichtigste, das wir uns in Erinnerung rufen dürfen, dass die Familie die Heimat des Herzens ist.