Ausgehend vom Vinschgau läuft mit Traces* (Deutsch: Spuren) aktuell eine feministisch-partizipative Aktionsforschung zu den Langzeitfolgen sexualisierter Gewalt an Mädchen und Frauen in Südtirol an. ëres hat mit Monika Hauser, Gynäkologin, Gründerin von medica mondiale und Initiatorin von Traces, und Andrea Fleckinger, Forscherin an der Uni Trient und wissenschaftliche Leiterin der Studie, gesprochen: über das Schweigen, das mit sexualisierter Gewalt noch immer einhergeht, über nichtaufgearbeitete Traumata und deren Spuren über Generationen hinweg und über den Beitrag, den Forschung leisten kann, um dieses Schweigen systematisch und nachhaltig zu brechen.
Beginnen wir mit zwei Begriffsklärungen: Was versteht ihr unter sexualisierter Gewalt?
A. F.: Der Begriff der sexualisierten Gewalt umfasst das ganze Spektrum an Übergriffen und Grenzüberschreitungen mit sexualisiertem Hintergrund, also jede Situation, in der eine Frau in dieser Hinsicht nicht mehr selbst über ihren Körper bestimmen konnte. Er meint Vergewaltigung genauso wie jedes Nachpfeifen, jedes Begrabschen, jeden erzwungenen Kuss.
M. H.: Wir sprechen aus feministischer Sicht ganz bewusst nicht von sexueller Gewalt, sondern verwenden den Begriff der sexualisierten Gewalt. Denn es geht nicht um sexuelle Lust, sondern um Macht, Kontrolle und Unterdrückung der Frau. Die Gewalt wird sexualisiert.
Und wie kann man sich feministisch-partizipative Aktionsforschung vorstellen?
A. F.: Feministisch ist unsere Forschung, weil wir sie ausgehend von einem kritischen Blick auf das Geschlechterverhältnis gestalten. Partizipativ ist sie, weil das Wissen der Teilnehmerinnen den Forschungsprozess mitbestimmt, das heißt, unser Forschungsdesign wird immer wieder daran angepasst, was wirklich gebraucht wird.
M.H.: Unsere Forschung verfolgt zwei zentrale Anliegen: wir möchten verstehen und verändern. Dieses Forschungsverständnis findet auch Ausdruck in unserer Herangehensweise. Natürlich hat die Wissenschaftlerin eine andere Rolle als die Befragte. Aber durch den partizipativen Ansatz bekommt die Befragte eine gewisse Kontrolle über das Geschehen, indem sie auf sensible Art und Weise befragt wird und Einfluss auf den Forschungsprozess nehmen kann. Das ist für Traces insofern wichtig, als dass Überlebende von sexualisierter Gewalt in der traumatischen Situation eben keine Kontrolle über das Geschehen hatten. Genauso wenig wie danach, wenn sie von der Gesellschaft stigmatisiert werden. Beim Sprechen über ihre Erlebnisse sollen sie diese Kontrolle behalten können.
A. F.: Und damit sind wir auch schon bei der Aktionsforschung: Unsere Forschung soll einen Nutzen für die Teilnehmerinnen und die Südtiroler Gesellschaft als Ganzes haben, es geht um wirkliche Veränderung und das Brechen des Schweigens rund um sexualisierte Gewalt.
Was sind denn mögliche Langzeitfolgen sexualisierter Gewalt und wie schaut eure Forschung konkret aus?
A.F: Die Langzeitfolgen sexualisierter Gewalt zeigen sich auf unterschiedliche Art und Weise und sind natürlich höchst individuell und situationsabhängig – Beispiele sind etwa Sucht- und Beziehungsprobleme, psychische Erkrankungen, besonders schwierige Geburten oder ein ‚Einfach ständig krank sein‘, die sich in Familien manchmal über die Generationen hinweg häufen. Wir, und damit meine ich mich und meine Kooperationspartnerinnen, sind mit dem Thema Gewalt an Frauen schon länger konfrontiert und wissen um die aktuelle Situation in Südtirol. Ziel der Studie ist es, zu klären, wie es eigentlich sein kann, dass wir hier in diesem großen Ausmaß damit konfrontiert sind und sich die Zahlen jedes Jahr aufs Neue bestätigen.
Unsere Hypothese ist, dass es heute so viel Gewalt an Frauen in Südtirol gibt, weil so viel vergangene Gewalt verschwiegen wurde, also vergangene Traumata nicht aufgearbeitet und über Generationen weitergegeben wurden – wobei sich dieses Phänomen natürlich nicht auf Südtirol beschränkt, in ländlichen Kontexten aber auf besondere Weise zeigt. Wie dieser Weitergabeprozess passiert, wollen wir durch unsere Forschung besser verstehen und es gleichzeitig möglich machen, dass über sexualisierte Gewalt zu reden angefangen wird. Dafür möchten wir möglichst mit drei Generationen derselben Familie sprechen, also mit Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, mit deren Töchtern und Enkelinnen – dass alle drei Generationen mit uns sprechen wollen oder können, ist aber keine zwingende Teilnahmebedingung.
Jetzt haben wir schon oft den Begriff des Schweigens gehört. Was hat Schweigen über Gewalterfahrungen mit patriarchalen Gesellschaftsstrukturen zu tun?
M.H.: Das Schweigen ist in patriarchalen Strukturen systemerhaltend. Damit diese fortbestehen können, dürfen die Verbrechen der sexualisierten Gewalt und die dahinterliegende strukturelle Systematik und Machtungleichheit nicht offengelegt werden. Dafür kommen ganz bestimmte Strategien zum Einsatz: Die Opfer werden lächerlich gemacht und ausgegrenzt, die Gewalt, die passiert ist, wird bagatellisiert. Zudem werden durch sogenanntes ‚Victim Blaming‘ Schuld und Verantwortung umgekehrt: Der ganze Hass und die ganze Verachtung werden über die Überlebenden gegossen, um sich nicht mit den Tätern, den ‚Mächtigen‘ auseinandersetzen zu müssen.
Wenn die Aussage der Frau lächerlich ist, und es somit ja gar nicht wahr oder ‚gar nicht so schlimm‘ gewesen sein kann, was sie sagt, oder wenn sie sogar ‚selbst Schuld‘ am Geschehenen trägt, muss ich mich nicht mit ihr solidarisieren.
Statt Verantwortung übernehmen zu müssen, kann ich mich sogar distanzieren. So entsteht eine Schweigekultur, innerhalb derer das Reden über Erfahrungen sexualisierter Gewalt nicht möglich ist, weil die Folgen existenziell sein können. Bei den Gesprächen, die wir in den letzten Monaten mit Menschen im Tal hatten, sind uns viele Ängste und Widerstand zu sprechen begegnet. Die Folge ist, dass Betroffene mit ihrem Schmerz allein bleiben und immer wieder retraumatisiert werden.
A.F.: Diese patriarchalen Strategien und Mechanismen wirken sowohl auf individueller als auch auf institutioneller Ebene und haben wenig mit dem Geschlecht der Person zu tun, die sie verwendet – gerade erst hatten wir in Italien etwa das sogennante 10 Sekunden Urteil (siehe Seite 6), das von einer Richterin gesprochen wurde.
M.H.: Das zeigt, dass patriarchales Denken und Handeln auch von manchen Frauen internalisiert wurde und sie sich, wie eine Art Überlebensstrategie, auf die Seite der Mächtigen stellen, um an der Gesellschaft teilhaben und in Machtpositionen bestehen zu können. Die Erfahrung, dass ein ganzes System daran mitwirkt, diese Strukturen zu erhalten, habe ich selbst ganz früh als junge Ärztin im Praktikum im Krankenhaus Schlanders im Vinschgau gemacht. Ich wollte über Gewalterfahrungen sprechen, die mir Patientinnen anvertraut hatten. Dafür wurde ich ebenfalls systematisch ausgegrenzt. All das fördert, was wir das Kontinuum der Gewalt nennen. Gerade weil darüber geschwiegen wird, kann die Gewalt immer weitergehen. Aber die gute Nachricht ist: das Patriarchat ist sozial konstruiert. Wir können also aus diesem System aussteigen, es dekonstruieren und eine ganz andere Gesellschaft bauen, wenn wir aktiv beschließen, das Kontinuum zu stoppen. Das patriarchale System hat bereits Risse bekommen, durch die Frauenbewegung, durch Medien, in denen mutige Frauen sprechen etc. Aber noch sind diese Risse nicht tief genug, um nachhaltig zu wirken. Um das zu erreichen, müssen wir zusammenarbeiten und gemeinsam strategisch vorgehen.
Was kann Forschung beitragen, damit sich die gesellschaftlichen Verhältnisse langfristig verändern und sexualisierte Gewalt verhindert werden kann?
A.F.: Der unmittelbare Beitrag unseres Projekts ist, dass wir beginnen, zu sprechen – schon diese Interviewsituation ist ja ein Moment, in dem über sexualisierte Gewalt, deren Ursachen und Langzeitfolgen gesprochen wird. Dass wir Betroffenen Anlaufstellen und Fachkräften in sozialen und Gesundheitsberufen konkrete Methoden und Strategien in die Hand geben, wie sie professionell-empathisch reagieren können, wenn sie mit dem Thema sexualisierte Gewalt konfrontiert sind. Dieses Brechen des Schweigens bringt langfristig die Möglichkeit, gesellschaftliche Strukturen zu verändern. Natürlich können wir mit einem einzigen Forschungsprojekt nicht die gesamte Südtiroler Gesellschaft verändern, aber wir können ermöglichen, dass Betroffene ernst genommen werden, dass sie eine Stimme bekommen und dass in den nächsten Generationen anders mit dem Thema umgegangen wird, somit handeln wir auch präventiv.
M.H.: Weil wir wissen, wie tief die Thematik in der Gesellschaft verankert ist, ist unsere Forschung eingebettet in lokale Strukturen, wir sind im Austausch mit psychologischen und Sozialdiensten, mit Bäuerinnenverbänden, mit Altersheimen etc. Wir wollen keine Forschung für die Schublade machen, sondern Ergebnisse generieren, die einen Beitrag zur Aufklärung der Gesellschaft leisten und sich z.B. als Bildungsmaterialien nutzen lassen. Es ist ganz wichtig, dass die Gesellschaft endlich versteht, dass diese Gewalt und ihre Tabuisierung enden müssen. Dazu wollen wir mit unserer Forschung beitragen und Unterstützung anbieten.
Was brauchen Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, eurer Erfahrung nach, um diese – und zwar in allen eingangs erwähnten Facetten – auch als solche benennen zu können und das Schweigen zu brechen?
M.H.: In dieser Hinsicht ist mir eins besonders wichtig: Nicht die Überlebenden sexualisierter Gewalt müssen das Schweigen brechen, sondern zuallererst wir als Gesellschaft. Sexualisierte Gewalt zu individualisieren und die Überlebenden damit allein zu lassen, ist übrigens eine weitere patriarchale Strategie, die wir ansprechen und angehen müssen! Natürlich brauchen Überlebende Empathie und eine adäquate psychosoziale und ggf. rechtliche Begleitung.
Darüber hinaus brauchen sie aber eine aufgeklärte, wahrnehmende und unterstützende Gesellschaft sowie eine Politik, die die Massivität und Folgenschwere dieser Menschenrechtsverletzungen ernst nimmt und in Maßnahmen umsetzt.
Es braucht Medien, die nicht einzelne Sensationsfälle skandalisieren, sondern aufzeigen, wie tief sexualisierte Gewalt in unserem Alltag verankert ist. Es braucht Forschung, die das aufarbeitet und benennt – von einem feministischen Fokus ausgehend.
A.F.: Was sie auch brauchen, sind Personen, die überhaupt in der Lage sind, über sexualisierte Gewalt zu sprechen. Damit meine ich nicht irgendwelches laienhaftes therapeutisches Wissen, sondern die Fähigkeit, das, was mir erzählt wird, in diesem Moment auszuhalten, es in Worte zu fassen und Feedback geben zu können. Ich muss diesbezüglich an ein Gespräch denken, in dem als Antwort auf die Frage, wie das Leben der Frauen im Vinschgau früher denn war, die Antwort kam: Das Leben der Frauen war hart. Punkt. Was bedeutet das eigentlich? Was ist damit gemeint? Dafür Worte zu finden, ist so eine Aufgabe, die wirklich jede und jeden von uns was angeht.
*Traces ist eine Kooperation von Medica Mondiale, dem Forum Prävention, dem Frauenmuseum Meran und der Universität Trient.
Monika Hauser © Bettina Flinter
Andrea Fleckinger © privat
Teilnehmerinnen für die Studie gesucht: