Menschen mit Behinderung

Politik behindert

// Heidi Ulm //
Politik ist im Idealfall das Spiegelbild der Gesellschaft. Im Südtiroler Landtag sitzt derzeit kein Mensch mit Behinderung, obwohl wir zehn Prozent der Bevölkerung darstellen. Aber welche Forderungen und Erwartungen haben Menschen mit Behinderung an die Politik und wie können sie bestmöglich, auch von Nichtbetroffenen, umgesetzt werden? Und wie geht überhaupt eine barrierefreie Wahl?
Nicht für alle Menschen ist es so einfach, in der Wahlkabine ihre Stimme abzugeben. In Südtirol bietet beispielsweise das Weiße Kreuz bei Bedarf einen kostenlosen Transport für nicht gehfähige Wählerinnen und Wähler zu den Wahllokalen an. Dennoch: Wählen ist nicht für alle barrierefrei. © Weißes Kreuz
Vor dem Gang zur Wahlurne wäre es von Vorteil sich über die Wahl zu informieren, um nicht aus Versehen seine Stimme ungültig zu machen, weil man den Wahlzettel falsch ausfüllt. Genau aus diesem Grund hat People First, Selbstvertretungsgruppe für Menschen mit Lernschwierigkeiten, eine Broschüre rund um die Landtagswahlen in Leichter Sprache erstellt. Freilich unter Berücksichtigung der Par Conditio.
Barrierefreie Stimmabgabe
Zu den Wahlkabinen sei gesagt, dass es in manchen Wahlsektionen größere Wahlkabinen für Rollstuhlfahrer*innen gibt. Menschen mit Sehbehinderung haben das Recht auf eine Begleitperson. Jedoch äußern einige Selbstbetroffene, dass die Zugänglichkeit vieler Wahlsektionen zu wünschen übriglässt.
Welche Politik brauchen Menschen mit Behinderung?
Als Selbstbetroffene sind mir die Forderungen von Menschen mit Behinderungen an die Politik bekannt. Und es sind viele Forderungen, weil ein gleichberechtigtes und selbstbestimmtes Leben für viele nicht immer möglich ist. Unmöglich, an dieser Stelle jedes einzelne Anliegen zu beschreiben, einige davon seien jedoch an dieser Stelle genauer ausgeführt.
Inklusive Arbeit und gerechte Entlohnung
Menschen mit Behinderung haben das Recht ihren Lebensunterhalt durch eine frei gewählte Arbeit zu verdienen. Die Realität zeigt aber, dass viele Unternehmen lieber eine (geringe) Geldstrafe im Kauf nehmen, als einen Menschen mit Behinderung einzustellen. Eine Lösung wäre, die Geldstrafen deutlich zu erhöhen, sodass die Entscheidung der Betriebe nicht mehr ganz so einfach ist. Für Betriebe sind zudem Unterstützungshilfen seitens der öffentlichen Ämter wichtig.
Auch die Behindertenwerkstätten sind nicht ohne Probleme. Zum einen gibt es viele Menschen, die jahrelang auf einen Platz warten. Und einmal dort, schaffen es die meisten nicht mehr in den freien Arbeitsmarkt. Die Menschen in den Behindertenwerkstätten bekommen im Schnitt einen bis drei Euro pro Stunde, womit sie nie finanziell unabhängig sein können.
360 Grad Barrierefreiheit
Ein weiteres Anliegen ist die Barrierefreiheit und damit ist nicht nur der Abbau von architektonischen Barrieren gemeint. Barrierefreiheit sind auch die Blindenleitlinien, Sprachausgaben, die Leichte Sprache, die Übersetzung in Gebärdensprache usw. Für eine barrierefreie Gestaltung des öffentlichen Raumes ist das „Zwei-Sinnes-Prinzip“ ein wichtiger Grundsatz. Nach diesem Prinzip müssen alle Informationen in mindestens zwei der Sinne Hören, Sehen und Tasten dargestellt werden. Ein Alltagsbeispiel dazu sind die Rauchmelder, die nicht nur akustische, sondern auch optische Alarmsignale durch Alarmlichter abgeben können. Somit können auch Gehörlose und schwerhörige Menschen Alarmsignale wahrnehmen.
Es ist wichtig zu erkennen, dass mit dem Zwei-Sinne-Prinzip nicht alle Menschen Berücksichtigung finden (z. B. Menschen, die mehrere Sinne nicht haben). Hier braucht es innovative Lösungsansätze.
Leider werden auch heute noch neue Einrichtungen gebaut, die nicht barrierefrei sind, so wie das erst kürzlich fertig gestellte Mobilitätszentrum in Bruneck. Die jetzigen Umbaukosten hätten durch eine unsichtigere Planung verhindert werden können. Warum nicht Selbstbetroffene im Vorfeld anhören?
Persönliche Assistenz ist der Schlüssel zu einem selbstbestimmten Leben
Was bringt einem Menschen ein Aufzug, wenn er aber nicht dorthin kommt, weil ihn niemand vom Bett in den Rollstuhl hebt. Barrierefreiheit allein nützt also nicht immer und nicht in allen Fällen, denn auch in der Idealvorstellung einer barrierefreien Welt brauchen viele Menschen mit Behinderung menschliche Hilfe: eine sogenannte Persönliche Assistenz. Persönliche Assistent*innen sind eine unterstützende Kraft für Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen, in denen Unterstützung aufgrund ihrer Behinderung erforderlich ist, zum Beispiel im Haushalt, bei der Arbeit, im Studium oder auch bei Freizeit-Aktivitäten.
Die Persönlichen Assistent*innen stellen ihre Augen, Muskelkraft, Füße oder Hände je nach Bedarf zur Verfügung. Der wesentliche Unterschied zum Leben in betreuten Einrichtungen besteht darin, dass Menschen mit Behinderungen in der Rolle der Auftraggeber*in agieren. Sie haben die Kontrolle über ihren Lebensstil und entscheiden selbst, was für sie am besten ist.
In Südtirol ist das Konzept der Persönlichen Assistenz noch nicht wirklich angekommen. Es gibt einen finanziellen Beitrag „Selbstbestimmtes Leben und gesellschaftliche Teilhabe“, den aber nur Menschen mit einer eigenen Wohnung, einem Pflegegeld und einer Invalidenrente beziehen können. Damit werden viele Betroffene bereits im Vorfeld ausgeschlossen. Zum Beispiel erhalten die meisten Menschen mit einer Sinnesbeeinträchtigung kein Pflegegeld, weil sie keine Pflege im klassischen Sinne benötigen, dennoch wäre auch für diese Personen eine Assistenz oft wünschenswert. Kein Wunder, dass dieser Beitrag von nicht mehr als zehn Personen südtirolweit angesucht wird
Zudem müssen Betroffene ihre Assistent*innen selbst suchen, was durch die schlechte Entlohnung schwierig bis unmöglich ist, Verträge erstellen und alles koordinieren. Es braucht eine Vermittlungszentrale, weniger Bürokratie und bessere finanzielle Absicherung für die Assistent*innen.
Die Persönliche Assistenz ist zweifelsohne eines der obersten Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung, die zuallererst umgesetzt werden müssen – denn ohne dies ist die Umsetzung aller anderen Forderungen nur halb so wirksam.

Zum Schluss sei noch erwähnt, dass alle Forderungen von Menschen mit Behinderung der gesamten Bevölkerung zugutekommen. Sei es Eltern mit Kinderwägen, älteren Personen oder jenen, die im Laufe des Lebens eine Behinderung erwerben, denn nur drei Prozent der Behinderungen sind angeboren.

Kolumne

Alles paletti

// Alexandra Kienzl //
Der Weg zur Gleichstellung von Mann und Frau ist noch ein weiter. Ja, auch bei uns.
© Claudio Schwarz - unsplash
Die sozialen Medien sind oft nervig, weil sich darin jede*r zu allem äußert. Manchmal sind sie aber auch lehrreich. Ich habe beispielsweise vor kurzem gelernt, dass die Gleichstellung von Mann und Frau in Südtirol prima klappt. Nach dem Femizid in Schlanders, bei dem der Täter bekanntlich Migrationshintergrund hat, wurden Männer und auch Frauen auf Facebook nicht müde zu betonen, dass „solche Typen“ kapieren müssten, dass „bei uns“ Frauen respektiert würden. Oha, dachte ich, wie erfreulich. Da muss sich schlagartig einiges geändert haben, seit ich das letzte Mal Augen und Ohren aufgesperrt habe. Denn die Lebensrealitäten der meisten Frauen könnten eine ordentliche Portion Respekt gut gebrauchen.
Wenn Frauen „bei uns“ respektiert werden, so wie Männer respektiert werden, warum werden sie nach wie vor schlechter bezahlt, warum gibt es einen Gender Pay Gap von 17 Prozent? Warum haben Frauen dann ein ungleich höheres Risiko in der Altersarmut zu landen? Wenn Frauen respektiert werden, wieso wird ihre Arbeit im Haushalt, in der Kindererziehung, in der Pflege von Angehörigen als selbstverständlich angesehen und wenig bis gar nicht entlohnt? Wieso wird angenommen, Frauen könnten das alles ganz problemlos noch neben ihrem eigentlichen Job schultern? Oder gingen selbstverständlich in Teilzeit oder verzichteten sogar auf eigene Erwerbstätigkeit und machten sich damit finanziell abhängig von ihrem Partner? Zeugt es von Respekt, wenn Frauen von ihrem Partner knapp bei Kasse gehalten werden, obwohl sie den Laden schmeißen? Wenn das Haushaltsgeld kaum ausreicht, oder gönnerhaft ein Taschengeld gewährt wird, als wäre die Frau ein Kind, obwohl sie einen 24-Stunden-Job macht? Wenn sie ihm abends das Bier und die Patschen bereitstellen muss, wie eine Sklavin?
Ist es respektvoll, wenn Frauen sich immer noch blöde Sprüche anhören müssen, in Bezug auf ihr Aussehen, auf ihr Alter, auf ihre vermeintlich geschlechtstypischen Eigenschaften? Wenn sie sexistisch angemacht werden, wenn sie begrapscht werden, wenn sie beim Ausgehen auf ihr Glas aufpassen müssen, weil K.O.-Tropfen drin landen könnten? Wenn sie, nachts allein auf dem Nachhauseweg, in der Jackentasche ihre Schlüssel umklammern, um einem plötzlichen Angreifer zumindest ein bisschen Gegenwehr leisten zu können? Ist es respektvoll, wenn sich Frauen mit solchen Szenarien abfinden müssen, immer darauf gefasst sein müssen, dass ihnen etwas passieren könnte?
Ist es ein Zeichen von Respekt, davon, dass man die Frau als dem Mann an Kompetenz und Intelligenz ebenbürtig wahrnimmt, wenn Frauen sich von Männern die Welt erklären lassen müssen, ungefragt und unaufhaltsam? Wenn Frauen in Sitzungen einfach überhört werden, der Mann dann aber Applaus dafür kassiert, wenn er dasselbe sagt? Wenn sie ungleich öfter unterbrochen werden, wenn man ihnen einfach nicht zuhört, sie nicht für voll nimmt, sie belächelt, wenn sie über Themen sprechen, die außerhalb des ihnen zugestandenen Kompetenzbereichs (Haushalt, Kinder, Mode, Schnickschnack) liegen? Wenn sie in männertypischen Sphären doppelt so viel leisten müssen, um mindestens ebenso ernst genommen zu werden, wie ihre männlichen Kollegen, während Männer in frauentypischen Berufen für jeden richtigen Handgriff bejubelt werden? Sind das lauter Beweise dafür, dass wir keinen Unterschied mehr machen zwischen Frau und Mann, dass beide als gleichwertig und mit gleichen Rechten ausgestattet wahrgenommen werden, hier, „bei uns“?
Es geht uns sehr viel besser als Frauen in anderen Teilen der Erde, geschenkt, und es geht uns sehr viel besser, als es noch unseren Großmüttern ging. Aber wir leben nach wie vor in einer patriarchalen Gesellschaft und haben in punkto Gleichstellung, bei allen Errungenschaften, noch einen langen Weg vor uns. In letzter Zeit scheinen wir auf diesem Weg sogar wieder ein paar Kilometer zurückgeworfen worden zu sein. Man muss daher nicht auf andere Kulturkreise zeigen, um Gewalt gegen Frauen zu erklären, wir haben selbst noch genug Baustellen. Und so lange diese nicht behoben sind, so lange Frauen nicht wirklich denselben Stellenwert in der Gesellschaft haben wie Männer, so lange wird die Gewalt gegen sie weitergehen.