Sexualbegleitung

Recht auf Nähe und Intimität für alle

// Heidi Ulm //
Sex ist ein menschliches Grundbedürfnis - unabhängig von einer Behinderung. Manche Menschen brauchen dabei jedoch Unterstützung durch Sexualbegleiter*innen. Nicole, Astrid und Ben gewähren Einblicke in ihre Arbeit.
Sexualbegleitung öffnet keine „triebgesteuerte Büchse der Pandora.“ © Ivan Samkov - pexels
Sexualbegleitung ist ein Angebot, das es etwa in Deutschland und Österreich gibt, in Italien jedoch nicht. Was ist das aber genau? Sexualassistenz oder Sexualbegleitung ist eine sexuelle Dienstleistung für Menschen mit Behinderung. Die Zielgruppe können aber auch Menschen mit psychischen Erkrankungen, ältere Menschen oder Menschen sein, die sich im Umgang mit der eigenen Sexualität schwertun. Die Sexualbegleiterin Ben hat eine schöne Metapher für ihren Beruf gefunden. „Der Begriff Sexualbegleitung zeigt, dass Sexualität eine Reise ist. So wie man sich in einem fremden Land eine*n Fremdenführer*in vielleicht zu Hilfe holt, gibt es das auch für Sexualität.“
Ablauf einer Sexualbegleitung
Die drei österreichischen Sexualbegleiterinnen Nicole, Astrid und Ben schildern einen ähnlichen Ablauf der Treffen. Zuerst gibt es ein Vorgespräch, in dem man sich unverbindlich kennenlernt und Wünsche, Erfahrungen und Erwartungen der Klienten geklärt werden. Danach gibt es ein nächstes Treffen – entweder in einem Hotel, bei den Klienten zuhause oder in ihren Pflegeeinrichtungen. Was dann folgt ist sehr individuell. Das Angebot reicht von der Hilfe bei der sexuellen Befriedigung über Kuscheln bis hin zum Geschlechtsverkehr. Sex kann also Teil eines Treffens sein, steht aber meistens nicht im Fokus. Es geht vor allem um Nähe durch Berührungen. Die oberste Regel ist, dass sich beide Seiten mit den Tätigkeiten wohlfühlen und Grenzen eingehalten werden.
Zwischenmenschlichkeit als oberste Priorität
Die drei Sexualbegleiterinnen nehmen aber nicht jede*n Kund*in an. Nicole erklärt den Grund: „Das hat gar nichts mit dem Schweregrad der Behinderung zu tun, sondern eigentlich mehr mit der zwischenmenschlichen Ebene, die dann vielleicht nicht passt, oder wenn die Vorstellungen von Sexualbegleitung komplett auseinander gehen.“ Alle drei arbeiten auch mit nonverbalen Kund*innen. Nicole findet es sogar spannend, eine gemeinsame Sprache zu finden und sich mit Gebärden, Piktogrammen und Körpersprache zu verständigen. „Jede Person hat ihre Art zu kommunizieren und die lernt man zum Beispiel durch längere Vorgespräche mit Einbeziehung der Umgebung“, erläutert Ben. Astrid betont aber, dass es für sie eine größere Herausforderung ist, die Grenzen von nonverbalen Kund*innen wahrzunehmen. Es gilt: langsames Herantasten.
Tabuisierung und Arbeitsrealität
In der Welt der Sexualbegleitung gibt es auch noch andere Herausforderungen. Ein großer Aspekt ist die gesellschaftliche Tabuisierung von Sexualbegleitung und Sexarbeit im Generellen. Kund*innen und Sexbegleiter*innen sind häufig Stigmatisierung ausgesetzt, die ihre Arbeit erschwert und viele Menschen davon abhält, diese Dienstleistung in Anspruch zu nehmen oder anzubieten.
Nicole unterstreicht die Wichtigkeit einer guten Zusammenarbeit aller beteiligten Personen, beispielsweise wenn Menschen in Einrichtungen leben. Für Astrid ist es entscheidend trotz der erforderlichen Intimität eine angemessene Distanz zu wahren und die eigenen Grenzen zu kennen und zu wahren. Sie erzählt, dass zu einer Sexualbegleitung auch Situationen gehören, die für manche als „ekelig“ empfunden werden könnten. Dabei spricht sie über Kund*innen, die aufgrund von Inkontinenz unabsichtlich urinierten oder sehr viel speicheln. In solchen Situationen ist eine offene Kommunikation unumgänglich.
Erfüllende Momente
Trotz dieser Herausforderungen gibt es auch viele positive Aspekte in der Arbeit als Sexualbegleiter*in. Die Möglichkeit, Menschen auf eine sehr persönliche und verletzliche Weise kennenzulernen und sie auf ihrer Reise zur Entdeckung ihrer eigenen Sexualität zu unterstützen, wird von allen Interviewpartnerinnen als äußerst bereichernd empfunden. Ben, Astrid und Nicole betonen, wie schön es ist, das Selbstbewusstsein und die Lebensqualität ihrer Kund*innen durch ihre Arbeit zu stärken. Darüber hinaus berichtet Astrid, dass sie auch positives Feedback von Betreuungspersonen erhält. Beispielsweise gibt es Klient*innen, die nach der Begleitung besser auf ihre Körperhygiene achten.
Weniger Stigma, mehr Akzeptanz
Eine der zentralen Forderungen der Sexualbegleiterinnen ist die Beseitigung des Stigmas ihres Berufs. Es wird unterstrichen, dass die meisten Sexarbeiter*innen freiwillig arbeiten, was auch gesellschaftlich anerkannt und akzeptiert werden sollte.
Bens Forderung an die Politik ist, dass „Sexualität und die freie Entfaltung als richtiges, zu verteidigendes Recht anerkannt wird.“ Außerdem sollte Sexualbegleitung durch die Krankenkassen bezahlt werden.
Nicole wünscht sich weniger Angst von den An­gehörigen im Umgang mit Sexualbegleitung. Sie öffne keine „triebgesteuerte Büchse der Pandora“, wie viele meinen. Zudem ist es für sie wichtig, die Zielgruppe mehr über Sexualbegleitung aufzuklären, viele wüssten gar nichts von dem Angebot.
Astrid hat hingegen den Wunsch nach einer Harmonisierung der Prostitutionsgesetze in Österreich, da jedes der neun Bundesländer eigene Regelungen hat. Dadurch könnten Hausbesuche für nicht mobile Kund*innen österreichweit ermöglicht werden.


Die Sexualbegleitung ist also nicht nur ein Beruf, sondern ein wichtiger Aspekt der sexuellen Gesundheit und des individuellen Wohlbefindens von Menschen mit Behinderung. Die Ansichten zu diesem vielschichtigen Thema mögen unterschiedlich sein, Abwertung und Diskriminierung sind aber nicht haltbar. Es sollte außer Frage stehen, dass Menschen mit Behinderungen genauso wie Menschen ohne Behinderungen das Verlangen nach Nähe und Intimität sowie das Recht auf Sexualität haben.

Centaurus

Die große Schande

// Jenny Cazzola //
In vielen Ländern der EU ist die Zwangssterilisation von Frauen mit Behinderung immer noch erlaubt.
Auch die Autorin dieser Zeilen war wütend und fassungslos als sie durch einen Beitrag in „heute – in Europa“ erfuhr, dass es in 13 EU-Mitgliedstaaten noch erlaubt ist, Frauen, die eine (häufig geistige oder kognitive) Behinderung aufweisen, sterilisieren zu lassen. Vielfach ohne ihre Zustimmung und ohne, dass sie erfahren, was mit ihnen geschieht.
Verstoß gegen die Istanbul- und die Oviedo-Konvention
Nur neun Mitgliedsstaaten – darunter Italien – stellen eine derartige Praxis unter Strafe. Auch, weil sie sowohl gegen die Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt als auch gegen die Oviedo-Konvention über Menschenrechte und Biomedizin verstößt. Erstere verlangt laut Artikel 39, dass chirurgische Eingriffe, die dazu dienen die Fähigkeit einer Frau zur natürlichen Fortpflanzung ohne deren Kenntnis und Zustimmung zu beenden, unter Strafe gestellt wird. Letztere verbietet nach Artikel 11 die Diskriminierung einer Person aufgrund ihres genetischen Erbes (und viele geistige Behinderungen, wie Trisomie 21 sind genetisch bedingt). Artikel 6 schreibt außerdem vor, dass eine medizinische Intervention (dazu gehören sowohl chirurgische Eingriffe als auch z.B. die Gabe von Medikamenten) an einer nicht einwilligungsfähigen Person immer zum unmittelbaren Nutzen der Person erfolgen muss. Die Person ist außerdem so weit wie möglich in das Einwilligungsverfahren miteinzubeziehen.

Doch Konventionen sind nicht bindend und müssen von den Ländern, die sie unterzeichnet haben, erst in nationales Recht übertragen werden. Und Menschen mit Behinderung wird häufig die Fähigkeit abgesprochen, Eltern zu sein. Deshalb treffen oft die Eltern die Entscheidung die Betroffenen einer Sterilisation zu unterziehen, aus Liebe, um sie vor Leid zu schützen, oder aus Angst sich eines Tages selbst um die Enkelkinder kümmern zu müssen. Dass sie den Betroffenen damit aber die sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung absprechen und die Fähigkeit selbst im Rahmen ihrer Möglichkeiten über ihr Leben zu bestimmen, das ist den wenigsten klar.
EU-Vorstoß
Das EU-Parlament zieht jetzt ein einheitliches Verbot der Zwangssterilisation an Menschen mit Behinderung in Erwägung. Doch bis jetzt handelt es sich dabei nur um einen Vorschlag an die Kommission. Der Weg zum Gesetz ist noch lang. In der Zwischenzeit hat das European Disability Forum eine Petition gestartet, die Bewusstsein für die Angelegenheit schaffen soll.
Die Situation in Italien
In Italien ist Zwangssterilisation kein autonomer Strafbestand, sondern kann bei einer Körperverletzung als erschwerender Umstand hinzukommen. So Art. 583 Abs. 3 Nr. 2 des Strafgesetzbuchs.