Lebensgeschichte

Aufstieg eines Phönix

// Kathinka Enderle //
In den tiefgründigen, braunen Augen der 22-jährigen Aurora, die aus dem Wipptal kommt, spiegelt sich eine Lebensgeschichte wider, die von Trauma und der Suche nach Liebe geprägt ist. Inmitten der Natur offenbart sie ihr inneres Feuer, das sie leuchtend erstrahlen lässt.
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Verlust und Erinnerung
Während um uns herum Vögel zwitschern und die Natur ihre Farben verändert, führt mich Aurora in die dunkelsten Ecken ihrer Kindheit: „Jetzt, wo ich an meine Kindheit zurückdenke, habe ich keine Erinnerung an elterliche Liebe.“ In ihrer Uroma fand sie eine mütterliche Figur: „Sie war die Einzige, die ihre Liebe zeigen konnte.“ Aurora erzählt, wie ihre Uroma mit liebevoller Strenge auf ihr Wohlergehen achtete, sie pflegte und in ihrer Kreativität förderte. „Ich verbrachte meine Zeit immer bei meiner Uroma. Ich erinnere mich, wie mittags alle eingetrudelt sind. Sie kamen zum Essen und gingen dann wieder - außer ich, ich bin immer bei ihr geblieben.“ Nachdem ihre Oma sitzend ihren Mittagsschlaf verbrachte, wie sie lachend erzählt, spielten die beiden Spiele oder gingen in den Garten. „Ich habe viele Erinnerungen an meine Uroma. Für mich ist es sehr schlimm, dass sie vor zwei Jahren gestorben ist. Ich habe damals die letzte Person verloren, die immer für mich da war, von der ich das Mütterliche bekam. Ich denke jeden Tag an sie.“
Das verlorene Zuhause
„Mein Elternhaus ist eine schwierige Angelegenheit. Meine Eltern sind getrennt, dementsprechend war mein Papa nie da und ich sah ihn nur selten. Wenn ich ihn dann mal sah, hatte er bereits seine neue Freundin mit eigenem Kind. Für ihn war seine andere Tochter immer besser. Vergleiche waren das einzige, das ich von meinem Papa bekam.“ Aurora hätte in ihrer Kindheit Stabilität gebraucht, einen sicheren Hafen, den sie leider auch von ihrer Mutter nie bekam. „Meine Mutter war oft unterwegs und genoss ihr Single-Leben. Dementsprechend war auch sie nicht für mich da. Auch das Schauspiel, eine Mama zu sein, hielt sie nie mehr als drei Tage durch. Es war ein Auf und Ab.“
Familiäre Muster – Von Generation zu Generation
Inmitten dieses Schmerzes stellt sich die Frage nach der Weitergabe von psychischer Gewalt und Vernachlässigung. Auroras Vater machte ähnliche Erfahrungen und war selbst aufgrund des Todes seiner Mutter von mütterlicher Liebe abgeschnitten. Ihre Mama hingegen hatte viele Menschen, die sie liebten. „Sie bekam die Liebe von allen, aber vielleicht war es nicht die Art von Liebe, die sie gebraucht hat, aber es waren immer alle für sie da.“ Diese Diskrepanz zwischen Liebe und Bedürfnissen wirkte sich auch auf Aurora aus, deren eigenen Bedürfnisse stets vernachlässigt wurden. „Ich war immer ein ruhiges, braves Kind. Familie war mir wichtig, aber die Erfahrung, dass ich anderen wichtig gewesen wäre, machte ich kaum. An Feiertagen war ich mal da, dann dort, ich wurde immer hin und her geschoben.“
Ein warmes Herz in der Kälte
Auch als Aurora älter wurde, hinterließen tiefe Verletzungen der Gesellschaft in Form von Mobbing Wunden in ihrer feinen Seele. Diese Erfahrungen vergrößerten ein Leid, das kein Kind erleben sollte. „Mir ist der Mangel an Liebe nie aufgefallen. Meine spätere Mitbewohnerin hat mir immer gesagt, dass ich sehr kalt bin. Das war das erste Mal, wo ich mich selbst hinterfragt habe, warum ich so bin, wie ich bin. Erst dadurch fiel mir auf, wie viel mir eigentlich fehlt.“ Die Abwesenheit elterlicher Liebe ließ Aurora ohne notwendigen Halt aufwachsen. Warum ihr dieser Schmerz übertragen wurde, weiß sie bis heute nicht.
Aurora: Ein Zeugnis der Resilienz und des Glaubens an die Zukunft
Trotz dieser schwierigen Erfahrungen gibt Aurora nicht auf, sondern befindet sich in einem fortlaufenden Prozess der Heilung. „Ich habe es noch nicht vollkommen geschafft, von der Erfahrung wegzukommen, aber ich bin mitten in meinem Prozess. Es fällt mir schwer, Menschen zu vertrauen. Ich merke, dass ich jemanden brauche, der diese Erfahrungen ersetzt, aber das ist der Ursprung von Trauma. Deshalb muss ich noch an mir arbeiten, aber ich schaue positiv in die Zukunft und verändere mich mit jedem Schritt.“ Mittlerweile, nach einigen Erfahrungen der romantischen Liebe, hat Aurora auch ihre Befürchtung überwunden, keine Liebe geben zu können. „Ich habe gemerkt, dass ich gut darin bin, Liebe zu geben, weil ich weiß wie es ist, wenn man keine Liebe bekommt.“
Mutig und nackt: die spirituelle Dimension der Liebe
Heute entwickelte Aurora ihr eigenes Bild von Liebe. „Als Kind hätte ich Liebe als einen Ort gebraucht, an dem ich bleiben und ankommen darf. An dem ich weiß, dass meine Familie dort ist und mich unterstützt. Jetzt ist Liebe für mich eine Vereinigung mehrerer Gefühle. Es ist die größte Emotion in uns Menschen. Doch für Liebe muss man mutig sein. Man muss lernen, dass man sich in der Liebe gefühlsmäßig nackt macht und ohne Schutzschild öffnet. Das Ego, das einem sonst vielleicht als Schutz dient, hilft in der Liebe nicht. Wenn man aufrichtig und wahrhaftig liebt, wird man selbst zur Liebe – und lieben kann man so viel. Liebe ist nichts Materielles, sie ist einfach. Ist es ein Gefühl? Nein, es sind so viele, dass man niemals alle erfassen kann. Liebe ist vielleicht auch eine spirituelle Erfahrung, die uns hilft, unsere Mission zu finden. Oft braucht es Verletzungen, um alles zu zerstören und neu aufzubauen.“
Ein Fenster öffnete sich
„Später lernte ich eine Person kennen, die ein Fenster geöffnet hat und mir zeigte, dass es noch mehr im Leben gibt. Ich lernte mich selbst zu lieben und meine Potenziale zu sehen, aber ich sah auch meine Defekte. Diese Person half mir, mich selbst kennenzulernen. Jetzt akzeptiere ich mich für das, was ich bin, und das, was ich sein werde. Das einzig Beständige ist die Veränderung. Ich weiß, dass meine Gefühle kommen und gehen und ich viele Versionen meines Selbst durchleben werde. Da ich weiß, wer ich bin und was ist noch sein kann, gibt mir das ein Gefühl von Sicherheit und Freiheit – das kann mir eine andere Person niemals geben.“
Das Feuer der Veränderung
„Im Lockdown gab es einen Punkt, an dem ich gefallen bin. Ich dachte, dass diese Zeit mein Ende ist und ich bereit bin, von dieser Welt zu gehen. Ich sah kein Licht mehr, war die pure Dunkelheit und Asche. Ich änderte mein Leben, bin umgezogen, hab neue Freundschaften geschlossen, besuchte die Uni. Früher war ich wie das Wasser. Ich habe gegeben, mir meinen Weg gesucht und alle von meiner Energie ernährt. Irgendwann war ich ein ausgetrockneter See, bestand nur noch aus Erde. Ich habe mich gefragt, was ich jetzt mache – meine Selbstliebe hat schließlich das Feuer in mir entzündet und aus der Asche stieg ich als Phönix auf. Ich liebe jetzt trotzdem - auf leidenschaftliche und starke Weise.“
Worauf es ankommt
„Durch Selbstliebe ändert sich viel. Als ich mal eine Kunstausstellung besuchte, stand dort „auch wenn alle dasselbe sehen, sieht niemand dasselbe wie du.“ Die eigene Wahrnehmung ändert die gesamte Lebensphilosophie. Deshalb muss man sich selbst kennenlernen und seine eigenen Potenziale erkennen. Dann weiß man, dass man noch weit kommen und viel machen kann. Es gibt Hoffnung, und das ist neben der Liebe das Wichtigste im Leben.“

Literarische Frauenstimmen

„Ja, das bin ich und das ist meine Geschichte“

// Hannah Lechner //
Autor*in Julia Ganterer im Gespräch
Julia Ganterer forscht, lehrt und schreibt seit einigen Jahren auf dem Gebiet der geschlechterspezifischen Gewalt – unter anderem an den Universitäten Innsbruck und Wien – und ist aktuell Co-Projektleitung der ersten sprachgruppenübergreifenden Studie zu sexualisierter Gewalt in Südtirol am Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung Innsbruck. Kürzlich ist Ganterers Buch „Ja, das bin ich und das ist meine Geschichte“ Frauen und ihre Wege aus der Gewalt im RAETIA Verlag erschienen – ein Sachbuch mit Tatsachenberichten, wie Ganterer sagt, das auf Interviews mit Frauen aus Südtirol basiert, die Gewalt in ihrer Partnerschaft und/oder Familie erlebt haben.
Über die Dringlichkeit zu sprechen
„Geht schon!“, waren die Worte, die die Autor*in von fast allen Gesprächspartnerinnen hörte, wenn es um die eigenen Gewalterfahrungen ging – Ganterer sagt über die Motivation, das Buch zu schreiben: „Eigentlich ging es mir ‚leicht‘ von den Fingern, weil ich den Drang und die Leidenschaft verspürte, über die Gewalterfahrungen betroffener Frauen und mein Wissen darüber zu schreiben.“ Das Buch soll das Phänomen von Gewalt in Familien und Partnerschaften beim Namen nennen und die Betroffenen zur Sprache kommen lassen: „Es soll zeigen, was es heißt, vom eigenen Vater über Jahre herabgewürdigt und geschlagen zu werden, was es heißt, vom eigenen (Liebes!)Partner misshandelt und vergewaltigt zu werden – und was es heißt, darüber schweigen zu müssen, weil frau sonst Angst um das eigene Leben und das ihrer Kinder haben muss etc.“
Gewalt als strukturelles Problem erkennen
Auf die Frage, ob und warum Südtirol das Buch nötig habe, sagt Ganterer: „Die Südtiroler Gesellschaft braucht nicht unbedingt genau dieses Buch – sie soll es aber als Aufruf der Frauen zu gesellschaftlicher Veränderung, Sensibilisierung und Selbstbestimmung verstehen.“ Es solle als Werkzeug gelesen werden, um den Mut, den Blick und die Sprache zu entwickeln, die nötig sind, um Gewalt im sozialen Nahraum als strukturelles Problem und nicht als Einzelschicksale zu erkennen und als solches benennen zu können: „Damit es uns als Gesellschaft gelingen kann, die Gewaltspirale zu durchbrechen und die sichtbaren und unsichtbaren Praktiken von Gewalt zu verhindern.“
© Michelle Schmollgruber
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