Sicherheit

Die Freiheit zu leben nicht nur zu überleben

// Maria Pichler //
Sicherheit ist ein menschliches Grundbedürfnis mit vielen Facetten. Sicherheit bildet Vertrauen, schafft Freiheit, eröffnet Möglichkeiten.
Irina Minakova stammt aus Charkiw. Die ostukrainische Millionenstadt liegt 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Als am 24. Februar 2022 um 5 Uhr morgens die heute 39-Jährige von Explosionsgeräuschen geweckt wird, gerät ihre Welt aus den Fugen. Russland hatte die Ukraine überfallen, die grenznahe Stadt ist eines der Hauptangriffsziele. „Wir konnten nicht glauben, dass das jetzt wirklich passiert“, erzählt die Ukrainerin. Die Familie flüchtet ins Stadtzentrum, lebt über einen Monat auf engstem Raum bei Irinas Schwiegereltern. „Ich könnte viel darüber erzählen, wie wir in dieser Zeit Lebensmittel, Benzin und Medikamente beschaffen konnten“, deutet Irina nur an, wie es ist im Krieg zu überleben. „Jeden Morgen weckten Bomben unsere Kinder. Nach einem Monat wurde uns bewusst: Das wird nicht zu Ende gehen – nicht morgen und nicht übermorgen.“ Irina verlässt mit ihren beiden Kindern und ihrer Mutter ihr Heimatland. Bringt sich in Sicherheit.
Irina Minakova
Sicherheit: ein menschliches Grundbedürfnis
Sicherheit – ein Begriff mit vielen Facetten: Einbruch, Diebstahl und Gewalt, Arbeit und Verkehr, Naturkatastrophen, Großevents und Internet. Sicherheit betrifft jegliche Lebensbereiche. „Sicherheit ist ein menschliches Grundbedürfnis, weil es uns ein freies und erfülltes Leben ermöglicht ohne Angst vor Schaden und Bedrohung“, definiert Sabine Cagol. „Sicherheit ist Kontrolle und Vorhersehbarkeit: eine klare Struktur, ein gleicher Tagesablauf und Rituale geben Sicherheit, von klein auf“, erklärt die Psychologin. „Und Sicherheit ist sehr subjektiv: Wann ich mich sicher fühle, hängt vielfach von meinen persönlichen Erfahrungen ab“, denkt die Expertin an Menschen wie Irina und ihre Familie: „Wer einen Krieg erlebt, aber auch wer Gewalt erfährt oder wer Opfer eines Einbruchs wird, wird andere Umstände brauchen um sich sicher zu fühlen als Menschen, denen ein solches Trauma erspart bleibt.“

Auf ihrer Flucht will Irina nicht irgendwo im Nirgendwo landen, sie hat ein klares Ziel: Bozen. Dort wohnt eine Kusine ihres Mannes. 72 Stunden und sechs verschiedene Züge braucht die Familie, um den sicheren Hafen zu erreichen. Es war nicht gefährlich, aber schwierig, sagt die Ukrainerin. Das viele Gepäck, die vielen Treppen, die vielen Umstiege. Aber auch viele freundliche Menschen. „Wir hatten keine Zeit zum Nachdenken, für Verzweiflung oder Panik, nein. Wir hatten nur das Ziel vor Augen: an einen friedlichen Ort zu gelangen.“
Sicherheit ohne finanzielle Sorgen
Frieden, das hat auch Sabine* ein Stück weit gefunden. Die heute 52-Jährige zieht ihre beiden Töchter alleine groß – und geht dabei mehr als einmal an ihre Grenzen. Psychisch. Und finanziell. „Ich hatte keine Wohnung, kein Auto und keine Arbeit“, erzählt die Wipptalerin, die nach der Trennung von ihrem Mann in Vollzeit arbeitet. Für die kleinere Tochter braucht sie eine Betreuung. Dann eine finanzierbare Bleibe. Rückzugsmöglichkeiten für die junge Mama gibt es kaum, jahrelang ist die Couch ihr Schlafzimmer. Und schließlich ein älteres Auto, unerwartete Reparaturen inklusive. „Die Spesen waren hoch, zu hoch. Vom Vater der Kinder hatte ich nicht viel zu erwarten.“ Die finanzielle Unsicherheit bereitet Sabine schlaflose Nächte. „Mein Arbeitgeber zahlte die Löhne nicht pünktlich und mein Ex weigerte sich Extra-Spesen mitzutragen“, erzählt sie. „Dann kommt das Unvorhergesehene: ein gesundheitliches Problem einer der Töchter.“ Sabine nimmt einen Kredit auf, den sie immer wieder aufstocken muss. „Es ist nicht einfach, wenn man sich trennt und plötzlich alleine dasteht – ohne finanzielle Sicherheit.“ Dennoch: Sie hat es geschafft, „dank meines starken Charakters, meiner verständnisvollen Familie und einer guten Freundin, die mir zwar nicht finanziell, aber anderweitig eine große Stütze war.“ Heute sind ihre Töchter selbständig, die Schulden fast getilgt – und Sabine stolz darauf, dass sie es geschafft hat. Die Investition in die Kinder, die Zeit mit den Töchtern hat sich gelohnt, sagt sie. „Nehmt aber – wenn irgendwie möglich – keine Kredite auf“, rät die 52-Jährige anderen Frauen. „Und bleibt positiv für eure Kinder. Sie werden es euch später danken.“
Dankbar, das ist auch Irina, die nach ihrer Flucht in Aldein ankommt. Völlig erschöpft von der Reise fühlt sie sich hier herzlich empfangen. „Dafür werden wir immer dankbar sein.“ Irina, ihre Kinder und ihre Mutter fühlen sich sicher, sie sagt, sie habe einen friedlichen Ort mit offenherzigen Menschen gefunden. „Und einem Panorama, das unsere Seelen zur Ruhe kommen lässt.“
Sabine Cagol
„Ich schaue, dass euch nichts passiert“
Mit Ruhe hat der Job von Anna Winding nur sehr wenig zu tun. Seit acht Jahren arbeitet die nunmehr pensionierte Buchhalterin an den Wochenenden als Security bei Konzerten, Veranstaltungen, Maturabällen und Zeltfesten. Die 61-Jährige fühlt sich verantwortlich für die Sicherheit, „dass alles gut abläuft, dass den Leuten nix passiert.“ In ihrer Dienstzeit – und in ihrer Freizeit. „Ich bin ein sensibler Mensch, auch wenn ich privat unterwegs bin und fragwürdige Situationen beobachte, gehe ich hin und frage, ob alles in Ordnung ist.“ Dabei verschafft sich die Security-Frau durchaus Respekt. „Ich schau, dass es euch gut geht und nichts passiert“, antwortet sie taff verwunderten Jugendlichen, die mitunter fragen: „Was tust du Oma denn da?“ Anna ist eine der wenigen Frauen in diesem Beruf.

Für die Sicherheit der Menschen zu sorgen, das sieht Alessia Paolini als ihre Hauptaufgabe, „vor allem für die Sicherheit der schwächsten Glieder unserer Gemeinschaft: Kinder und Frauen, die Opfer von Gewalt werden.“ Die 25-Jährige leitet die Carabinieri-Station in Kardaun, sie ist die erste Carabinieri-Kommandantin in Südtirol. „Als junge Frau sehe ich Sicherheit auch als die Freiheit, meine Meinung zu äußern und über meine Ziele zu entscheiden.“ Wirtschaftliche Unabhängigkeit, Schutz, Respekt und Unterstützung sind für die Kommandantin wichtig, mehr Sensibilisierung notwendig, um „eine Kultur der Gleichstellung der Geschlechter und des gegenseitigen Respekts zu verbreiten.“ Respekt bedeutet für die Kastelrutherin auch, die Grenzen eines Menschen zu kennen und zu akzeptieren und diese Person zu unterstützen, wenn sie ihre Verletzlichkeit zeigt, „damit sie sich sicher fühlen kann.“
Anna Winding
Sich sicher zu fühlen, aufgehoben und geborgen: zuhause und unterwegs, online und offline ist ein Bedürfnis, das wir alle fühlen. Nicht immer liegt es nur an uns – trotzdem: ein Stück weit haben wir es vielfach auch selbst in der Hand, wie und wo wir uns bewegen und wie viel Sicherheit wir in unserem Leben brauchen. Vielleicht ist es dann doch Irina, die es auf den Punkt bringt. „Sicherheit ist Freiheit. Die Freiheit, Pläne zu schmieden; die Möglichkeit, in meinem eigenen Bett sicher zu schlafen; die Freiheit für meine Kinder, mit ihren Freunden persönlich zu sprechen, nicht per Videoanrufe aus anderen Ländern; die Freiheit, die Schule zu besuchen und Hobbies auszuüben, nicht online oder in einer Unterkunft; die Freiheit, mich auszudrücken; die Freiheit, in den Wäldern zu spazieren (ohne Minen), im Meer oder im Fluss zu schwimmen (ohne Bomben), neue Eindrücke zu gewinnen, etwas auszuprobieren, ohne zu urteilen. Die Freiheit zu leben, nicht nur zu überleben.“
Alessia Paolini

Freundschaft

Von der Freundschaft

// Alexandra Kienzl //
Vor kurzem war die feministische Bestseller-Autorin Teresa Bücker in Bozen und sprach über Zeitgerechtigkeit. Darüber, dass der Lohnarbeit sehr viel Platz in unseren Leben eingeräumt wird, Frauen aber zusätzlich meist noch Pflege- und Erziehungsarbeit zu stemmen hätten, sodass kaum Zeit für anderes bleibt: für Hobbys, Partner, Freunde. Dabei sei gerade Freundschaft eine so wichtige Säule im Leben. An dieser Stelle schaltete sich bei mir das schlechte Gewissen ein. Mein Freundschaftsgarten, wenn ich mir ihn so vorstelle, ist ein eher mäßig liebevoll gepflegter. Da gibt es zwei, drei sehr robuste Gewächse, die zum Glück mit einem gelegentlichen Regenguss zufrieden sind und trotz nachlässiger Hinwendung meinerseits blühen. Da gibt es aber auch eine Reihe recht zarter Pflänzchen, denen ein wenig Aufmerksamkeit hie und da nicht genügt. Die bestimmt wunderbar wachsen würden, wenn man sich ordentlich um sie kümmerte – was im derzeitigen Lebensabschnitt zwischen gefühlt hunderten Verpflichtungen aber nicht drin ist. Also gehen ein paar von ihnen ein, andere halten tapfer durch und zehren von vergangenen Tagen – noch.

Ein schöner Anblick ist das nicht, und gesund ist es auch nicht: Wer erfolgreich Freundschaften pflegt, lebt länger, stärkt sein Immunsystem, senkt das Risiko an Demenz zu erkranken und – was Wunder – beugt Depressionen vor. Ärzte müssten uns praktisch Freundschaften verschreiben, und doch scheint uns genau dafür oft die Zeit zu fehlen: Für Sport und Partnerschaft schaufelt man sich noch irgendwie ein paar Stündchen frei, Freunde hingegen werden oft en passant abgespeist, per Whatsapp auf Standby gehalten. Zu verlockend ist abends die Couch statt des gemeinsamen Pizzaessens, neben dem schon lang versprochenen Anruf gibt es zig organisatorische Telefonate, die geführt werden müssten und dann auch Priorität bekommen. Verständlich, die Erschöpfung der zwischen häuslichen und außerhäuslichen Pflichten Aufgeriebenen ist groß, und meist ist es nicht nur eine Seite, die es „glaggeln“ lässt, sondern ein gegenseitiges Vertrösten auf den unbestimmten Zeitpunkt, an dem es dann „leichter geht“. Bevor der aber eintrifft, ist oft schon Funkstille eingekehrt. Das ist nicht nur schade, sondern fatal: Wir schließen als Erwachsene Freundschaften nicht mehr so beiläufig wie in der Schule oder während des Studiums; dass Freundschaften einfach so passieren, das schließt unser durchgetaktetes Dasein in den immergleichen Sphären beinahe aus. Freundschaft wird zu etwas, das man sich erarbeiten muss, zu einer Gelegenheit, die sich nur mehr selten bietet und dann beherzt ergriffen werden muss. Schon wieder Arbeit also.

Die sozialen Medien bieten da keinen Ersatz, auch wenn sie uns scheinbar ganz unkompliziert mit „Freunden“ versorgen: Langjährige Freunde kennen uns so, wie wir wirklich sind, und nicht bloß so, wie wir gerne wären. Unsere Fadheit halten sie geduldig aus, während sich die Online-Amigos unversehens einem anderen Profil zuwenden, sobald wir mal nicht so unterhaltsam sind. Und mit der Dankbarkeit um die gemeinsam bewältigten Lebensphasen kann das Prickeln noch so vieler Likes nicht mithalten. Lauter gute Gründe also, um sich aufzuraffen und mehr in unsere Freundschaften in der wirklichen Welt zu investieren. Das Feld dünnt ohnehin von selbst aus: Menschen und Weltanschauungen ändern sich, einige fallen ganz von selbst weg, bei manchen macht man vielleicht die bittere Erfahrung, dass man ihnen weniger wert ist, als sie uns. Aber bestimmt gibt es diese zwei, drei, die es sich unbedingt verdient haben, dass man dranbleibt, auch wenn es grad schwierig ist. Freunde sind tatsächlich die Familie, die man sich aussucht, sie geben eine Sicherheit, auf die keine*r von uns verzichten kann, und dafür kann man abends schon mal die Füße hoch bekommen.