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Im Wartemodus: Wie viel Zeit benötigt Behinderung?
// Heidi Ulm //
Zeit ist Geld. Zeit ist Luxus. Zeit ist ein kostbares Gut in unserer schnelllebigen und selbstoptimierenden Zeit. Für Menschen mit Behinderungen (MmB) gilt das auch, wenn nicht sogar noch mehr. Doch nicht die Behinderung frisst Zeit, sondern der Alltag voller Bürokratie und fehlender Barrierefreiheit.

© Jonathan Cooper - unsplash
Ein Aufzug – wie kürzlich am Bahnhof Brixen – ist über eine Woche defekt. Daraus wird für mobilitätseingeschränkte Personen ein großes Hindernis. Spontan mit dem Bus fahren? Geht oft nicht, denn barrierefreie Verkehrsmittel sind in Südtirol nicht Standard und ein Assistenzdienst muss teils 24 Stunden im Voraus organisiert werden. Selbstbestimmt und spontan reisen wird zur Illusion. Auch das Gesundheitssystem verlangt Geduld: Facharzttermine sind oft mit monatelanger Wartezeit verbunden und barrierefreie Praxen sind eher Seltenheit. Wer denkt beispielsweise an einen Gynäkologiestuhl für Rollstuhlnutzerinnen? Hinzu kommt der Formular-Dschungel: Anträge für Assistenz, Pflegegeld oder Hilfsmittel sind komplex, kompetente Beratung meist Mangelware. Die Bürokratie wird zum unbezahlten Nebenjob. Auch politische Reformen kommen, wenn überhaupt, im Schneckentempo. Die Südtiroler Landesregierung hat unlängst eine Kampagne zur Persönlichen Assistenz angekündigt – ein wichtiger Schritt. Doch die italienweite Reform (Dekret 62/2024), die unter anderem Behinderung multidimensional statt nur medizinisch bewerten will, wurde auf 2026 verschoben.
Crip Time – Zeit neu denken
In Disability Studies spricht man von „Crip Time“ – einem Begriff für das Zeiterleben von Menschen mit Behinderungen (MmB). Es beschreibt, wie MmB durch sichtbare und unsichtbare Barrieren mehr Zeit benötigen. Und diese Zeit fehlt dann für anderes: für Familie, für Freund*innen, für Erholung. Crip Time fordert darum flexiblere Strukturen und Zeitgerechtigkeit.
Was Energie mit Löffel zu tun hat
Passend dazu erklärt die US-amerikanische Aktivistin Christine Miserandino in ihrer „Spoon Theorie“ (zu Deutsch: Löffeltheorie), wie Energie im Alltag begrenzt ist. Jede Handlung kostet einen Löffel: aufstehen, duschen, zur Arbeit fahren – und eben auch Warten. Menschen ohne gesundheitliche Einschränkungen haben oft genug Löffel, um durch den Tag zu kommen. Menschen mit chronischer Krankheit oder Behinderung hingegen stehen von Anfang an weniger Löffel zur Verfügung – und daher müssen Betroffene sehr genau überlegen, wofür sie diese einsetzen. Sind alle Löffel aufgebraucht, geht schlichtweg nichts mehr.
Fazit: Zeitwohlstand braucht Barrierefreiheit
Zeitwohlstand entsteht dort, wo Barrieren verschwinden – physisch, sozial und gesetzlich. Was es braucht: Barrierefreiheit, weniger Bürokratie, flexible Arbeitszeiten und die konsequente Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Denn Zeit ist nicht nur Geld. Zeit ist Teilhabe. Zeit ist Lebensqualität. Und sie sollte uns doch allen zustehen.
Crip Time – Zeit neu denken
Was Energie mit Löffel zu tun hat
Fazit: Zeitwohlstand braucht Barrierefreiheit