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Auszeit Alm?

// Hannah Lechner //
Über die Langsamkeit des Lebens, übergriffiges Verhalten und eine feministische Hütten-Utopie
Bereits vor vier Jahren verbrachte Ara einen Sommer auf einer der höchsten bewohnten Almhütten Südtirols – damals mit ihrem Ex-Partner, letzten Sommer dann allein. Ihre Erfahrungen schildert sie ausführlich in einem Text, den ëres online veröffentlicht hat. Und wünscht sich im Nachhinein, die „Arschlöcher ihrer Kühe wären die einzigen Arschlöcher gewesen“, mit denen sie auf der Alm zu tun hatte. ëres hat Ara zum Interview getroffen.

Wie kann man sich deinen Alm-Alltag vorstellen, und was magst du daran?
Die Hütte liegt auf knapp 2.400 Metern und ist über 100 Jahre alt – ohne Strom, nur mit eiskaltem Wasser vom Berg und sogar beim Pinkeln mit Aussicht auf Wasserfälle und Murmeltiere, weil das Plumpsklo keine Tür hat (lacht). Der Alltag sieht so aus, dass ich jeden Tag nach den Kühen schaue, wobei ich von einem Ende der Weidefläche zum anderen vier bis fünf Stunden brauche, einmal pro Woche meine Schafe zähle und nachsehe, ob es neue Lämmer gibt, und immer wieder Heu mache. Nebenbei schenke ich ein paar Getränke aus für die wenigen Wandernden, die vorbeikommen.

Was ich daran mag, ist, wie langsam das Leben passiert, wenn man sich dem Rhythmus der Tiere anpasst und mit der Sonne aufsteht und schlafen geht, weil es in der Hütte weder Strom noch Empfang gibt. Das ganze Nervensystem fährt runter, du bist ganz weit oben und vergisst die Welt – sie könnte einfach untergehen und du würdest es nicht mitkriegen. Ich bin gern allein und fühle mich dann sehr in meiner Kraft, weil ich keinen Druck von außen spüre und alles selbst entscheiden kann – ich hab auch kein Problem, mich zu beschäftigen. Jeden Abend beim Abspülen stand einfach eine Gams direkt vor meinem Küchenfenster, weil ich allein in der Hütte war und so leise.

Deine Idylle wurde vom grenzüberschreitenden Verhalten vieler Gäste zerbrochen.
Ja, fast jeder männliche Gast hat mein Aussehen kommentiert, mit Sprüchen wie „Schneidige Sennerin!“ oder „Was macht so ein hübsches Mädchen allein auf der Alm? Traust du dich denn, allein hier zu schlafen? Soll ich nicht später zum Kuscheln vorbeikommen?“ Ständig wurde von der Angst geredet, die ich haben sollte – auch von Frauen. Ich wollte zurückfragen: „Wovor soll ich denn Angst haben?? Die Hütte steht seit 100 Jahren, dann wird sie wohl noch einen Sommer mit Gewittern überstehen und Wölfe gibt es auch keine.“ Was niemand sagte, aber eigentlich alle meinten, war, dass ich Angst vor Männern haben sollte. Und irgendwann hatte ich die dann auch, weil ständig über meine Grenzen gegangen wurde, auch über meine körperlichen. Ich hatte mit anzüglichen Kommentaren gerechnet, die kenne ich aus der Gastro. Aber dass ich so viele sexualisierte Übergriffe erleben würde, inklusive Berührungen und verklausulierten Androhungen von Gewalt, hatte ich nicht erwartet. Ich wurde etwa ungefragt an der Hüfte angefasst und näher herangezogen, um Fotos von mir zu machen, ständig „beiläufig“ berührt oder gefragt, ob ich wisse, dass man die Sennerinnen früher von Hütte zu Hütte weitergereicht habe. Irgendwann gab es dann einen Vorfall, den ich in meinem Text näher beschreibe und der dazu geführt hat, dass ich körperlich und mental zusammengebrochen bin. Ich bin gern allein, aus all den Gründen, die ich oben genannt habe. Aber die Einsamkeit, die man spürt, wenn man Angst hat, ist völlig überwältigend und erdrückend.

Trotzdem wirst du kommenden Sommer wieder auf der Alm verbringen.
Ja, denn nach der Angst kam die Wut. Angst und Wut kann man nicht gleichzeitig haben, weil Angst klein macht und Wut empowernd ist. Als ich mit meinem Ex-Partner auf derselben Hütte war, wurde ich kein einziges Mal berührt. Das hat mich fertig und unglaublich wütend gemacht, dass der einzige Schutz vor sexualisierten Übergriffen ein anderer Mann zu sein schien. Dass ich nicht einfach einen schönen Sommer haben konnte, habe ich zunächst als Versagen meinerseits wahrgenommen. Ich hätte mich mehr wehren und meine Grenzen noch stärker aufzeigen müssen, dachte ich. Reagieren, statt mich davon lähmen lassen und danach Monate in meiner Angst gefangen im Bett zu liegen. Nach vielen Gesprächen mit Freund*innen wurde mir klar, dass die Angst gerechtfertigt war und okay ist. Aber ich will trotzdem bestärkt aus der Alm-Erfahrung rausgehen und nicht angstvoll – die Hütte soll nicht damit in Verbindung stehen. Ich hasse es, mir Sachen verderben zu lassen wegen Männern – das mache ich schon mein ganzes Leben, ich will das nicht mehr! Und deswegen habe ich beschlossen, kommenden Sommer wieder auf der Hütte zu verbringen und habe mir mit Freund*innen konkrete Strategien überlegt, wie ich die Erfahrung für mich besser machen kann. Ich will außerdem feministische Organisationen einladen und Stammtische abhalten – die Hütte soll ein Ort sein, an dem Geschichten geteilt werden und sich Menschen inspirieren lassen, voneinander und von der Natur. Und auf lange Sicht plane ich ein Projekt gegen sexualisierte Übergriffe auf Kellnerinnen. Sexualisierte Gewalt in der Gastro ist so normalisiert. Ich will, dass wir beginnen, darüber zu reden, dass das eben nicht normal ist. Und dass wir dagegen ankämpfen können, indem wir bestimmte Verhaltensweisen als Übergriffe benennen und sie so sichtbar machen und Zivilcourage einfordern. Es reicht, wie ich auch in meinem Text schreibe, nicht, das Verhalten Einzelner zu kritisieren. Weil wir alle Verantwortung für eine Kultur tragen, in der Respekt und Sicherheit selbstverständlich sind. Dafür braucht es Aufmerksamkeit, Solidarität und den Willen, gemeinsam etwas zu verändern.

Ara beim Heu machen & Sich dem Rhythmus der Tiere anpassen. © privat

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Zwischen Scheiße und Arschlöchern

// Ara //
© privat
Eine Almgeschichte
Auch wenn ich in diesem Text in einer binären Sprache (Frau/Mann) spreche, möchte ich betonen, dass das gesellschaftliche Spektrum an Geschlechtern und Identitäten weit darüber hinausgeht. Viele Menschen, besonders aus der LGBTQIA+-Community, erleben ebenfalls verbale und körperliche Übergriffe. Ihre Geschichten verdienen genauso Gehör, Sichtbarkeit und Schutz.

Stell dir vor: Idyllische Berge, kristallklare Seen, Murmeltiere, Gämsen, Wasserfälle und eine urige kleine Hütte. Klingt traumhaft, oder?

Ist es auch. Aber…

Ich bin eine selbstständige, abenteuerlustige, naturverbundene Frau und verbrachte den Sommer auf einer wunderschönen, weitläufigen Alm. Ich kümmerte mich um die Tiere und bewirtete die wenigen Wandergäste, die vorbeikamen. Da ich bereits einmal mit meinem Ex-Partner auf derselben Alm war, fühlte ich mich allen Herausforderungen gewachsen. Dachte ich zumindest.

Zu Beginn lief alles rund: Eine befreundete Person half mir, die Hütte in Schuss zu bringen, der Auftrieb verlief reibungslos, das Wetter spielte mit. Ich fühlte mich wohl. Doch dann war ich allein. Und versteh mich nicht falsch, ich mag alleine sein und komme gut mit mir und meinen Gedanken und Gefühlen zurecht. Ich hatte keine Angst vor Gewittern, Wölfen oder Bären. Die körperliche Arbeit war fordernd, aber erfüllend. Sogar das Schaufeln von Kuhscheiße empfand ich als effektives Workout. Ich genoss die Ruhe und die Langsamkeit des Almlebens.

Doch mit dem ersten Wanderer am ersten Tag meines Alleinseins kippte etwas. „So a schneidige Sennerin“, sagte er, „na, so a schneidige Sennerin het i mir net erwortet. Fühlsch die net alloan di Nocht? Soll i net kem di zi kuschln?“ Solche Sprüche kennt man. Sie sind nichts Neues. Das ist halt der Schmäh im Gastgewerbe, ein bisschen Flirten gehört dazu, das ist doch harmlos. Und genau deshalb lächelte ich es weg. Weil ich gelernt habe, nicht empfindlich zu sein. Weil man so etwas nicht „zu ernst“ nehmen soll. Aber etwas stimmte nicht. Da war ein schaler Nachgeschmack, ein inneres Unwohlsein, das blieb.

Leider blieb es nicht bei diesem einen Vorfall. Fast alle männlichen Passanten kommentierten mein Aussehen, mein Alleinsein und ihre Vorstellung von meiner Angst. Ich bekam „Angebote“ zum Kuscheln, Holzhacken, Beischlafen und „Beschützen“. Beschützen? Ich wollte keine Helden. Nur respektvoll behandelt werden. Worte sind nicht harmlos. Sie sind mächtig. Und viele dieser „Blödeleien“ waren nichts anderes als verbale Übergriffe und Grenzüberschreitungen.

Und es blieb nicht beim Reden: Ich wurde an Armen, Beinen, Rücken und Haaren berührt – oft unter Vorwänden wie dem Wunsch nach einem Foto oder einfach, weil sie es wollten. Ein häufiger Gast griff mir beim Fotografieren sogar auf den Hintern. Als ich ihn zurechtwies, war ich die Spaßverderberin. Meine Kühe hatten mehr Feingefühl als so mancher Mann.

Ich hatte keine Angst, als ich auf die Hütte gekommen war. Doch mit jedem Tag wuchs mein Unwohlsein. Ich sperrte jeden Abend die Hütte ab, hatte Pfefferspray griffbereit und war ständig in Alarmbereitschaft. Bei jedem Geräusch zuckte ich zusammen. Entspannen konnte ich nur, wenn Freund*innen zu Besuch waren.

Eines Abends saß ich in einiger Entfernung der Hütte auf einem Stein und genoss die Aussicht, dann sah ich eine Gestalt, ohne Rucksack, allein, um 19 Uhr, den steilen Weg zur Hütte hochkommen. Das war kein Zufallsspaziergang. Ich erstarrte und beobachtete alles von meinem Platz aus. Der Mann kam zur Hütte, sah sich um, durchsuchte sie und ging nach einiger Zeit des Wartens wieder. Ich weiß bis heute nicht, was seine Absicht war. Aber mein Körper kannte die Antwort: Ich zitterte, mein Herz raste, ich brach weinend zusammen.

Mein Körper reagierte heftig nach Wochen der Anspannung. Nach so vielen Momenten, in denen ich unangenehme Situationen weglächeln oder ausblenden musste, war mein System dauerhaft auf Alarm gestellt. Ständig musste ich meine Grenzen kommunizieren und verteidigen. Ich war ständig wachsam, selbst bei Geräuschen, die eigentlich harmlos waren. Mein Körper hatte gelernt, aufmerksam zu sein, weil es notwendig war. Ich war erschöpft, schlicht dauerhaft überlastet.

Gleichzeitig war da diese andere Art von Hilflosigkeit, wenn einem bewusst wird, dass solche Situationen keine Ausnahme, sondern Teil eines gesellschaftlichen Musters sind. Übergriffige Bemerkungen oder Berührungen werden oft als harmlos abgetan, als „Spaß“, als „Kompliment“, als Teil der Kultur. Ich hatte das Gefühl, nichts daran ändern zu können, dass selbst klare Grenzen kaum Wirkung zeigen. Diese Normalität, mit der Grenzüberschreitungen passieren, war es zusätzlich, die mich innerlich mürbe gemacht hatte.

Als ich am Ende der Saison in meine Wohnung im Tal zurückkehrte, brach ich mental zusammen. Ich sperrte mich ein, weinte tagelang. Mein Körper ließ los und ich konnte nichts anderes mehr tun als schlafen und weinen. Monatelang fiel mir jeder Schritt vor die Haustür schwer. Ich war gefangen in meiner Angst.

Warum erzähle ich das alles? Weil nach der Angst die Wut und der Wunsch nach Veränderung kam. Weil ich weiß, dass meine Erfahrung keine Ausnahme ist. Weil ich will, dass wir anfangen, diese „kleinen“ Übergriffe als das zu benennen, was sie sind: Grenzüberschreitungen. Weil ich zeigen möchte, wie schnell aus einem vermeintlich idyllischen Ort ein Ort der Unsicherheit wird.

Ich schreibe diesen Text, weil ich das Schweigen brechen will. Weil ich glaube, dass das Teilen von Erfahrungen der erste Schritt ist, um etwas zu verändern – in uns, aber auch im Außen. Ich wünsche mir Verständnis, Empathie und ein echtes Zuhören. Nicht Mitleid, sondern Mitgefühl. Nicht Verteidigung, sondern Reflexion. Nicht „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“, sondern „Ich will verstehen, wie mein Verhalten wirken kann.“

An alle Frauen: Du hast das Recht, deinen eigenen Weg zu gehen, ohne dich rechtfertigen zu müssen. Du darfst Grenzen setzen, Entscheidungen treffen und dich frei bewegen, ohne dich an übergriffiges Verhalten gewöhnen zu müssen. Du bist nicht allein mit dem, was du erlebst. Es ist in Ordnung, darüber zu sprechen und dir Unterstützung zu holen. Es ist nicht deine Aufgabe, dich anzupassen, sondern die der anderen, dich zu respektieren.

An alle Männer: Reflektiere dein Verhalten und deine Sprache, besonders gegenüber Frauen, die du nicht kennst. Kommentare über das Aussehen oder körperliche Nähe ohne Einverständnis sind übergriffig, auch wenn sie „nicht so gemeint“ sind. Du hast Einfluss darauf, wie sicher sich Menschen in deiner Umgebung fühlen. Übernimm Verantwortung für dein eigenes Verhalten und sprich andere darauf an, wenn sie Grenzen überschreiten.

Meine Geschichte auf der Alm ist kein Einzelfall. Solche Erfahrungen sind erschreckend häufig. Viele Frauen erleben Übergriffe – in den Bergen, beim Wandern, in der Stadt oder im eigenen Zuhause. Vieles davon bleibt unausgesprochen oder wird bagatellisiert. Aber je sichtbarer solche Erfahrungen werden, desto klarer wird auch, wie notwendig Veränderung ist. Es reicht nicht, das Verhalten von Einzelnen zu kritisieren, wir alle tragen Verantwortung für eine Kultur, in der Respekt und Sicherheit selbstverständlich sind. Dafür braucht es Aufmerksamkeit, Solidarität und den Willen, gemeinsam etwas zu verändern.

Und jetzt stell dir vor: Idyllische Berge, kristallklare Seen, Murmeltiere, Gämsen, Wasserfälle, eine urige kleine Hütte – und die einzigen Arschlöcher, die ich sehe, sind die von meinen Kühen.