Herstory

Gut Ding braucht Weile (und Mühe)

// Lisa Settari | Frauenarchiv //
Die Zeit mag einige Wunden heilen, aber das Patriarchat vermag sie nicht von allein zu zerstören. Elena Lucrezia Cornaro Piscopias Biografie erinnert uns daran, dass zähe gemeinsame Kämpfe nötig sind, um Veränderung in die Wege zu leiten.
Elena Lucrezia Cornaro Piscopia war die erste laureata auf der italienischen Halbinsel © Public Domain
Ein Haushaltswarenladen in Padua, Herbst 2022. An der Kassa mansplainte mir der Verkäufer, was ich mit meinem neuen Stabmixer alles zubereiten könnte, und lud sich gleich selbst zum Essen ein. Da ich wenig geschmeichelt reagierte, wechselte er das Thema und fragte nach meinem Studiengang. „Frauen- und Gendergeschichte“, antwortete ich. Ob ich denn wüsste, wie die erste Frau hieß, die an der Universität von Padua einen Studientitel erhalten hat, wollte er dann wissen. Ich musste passen. „Elena Lucrezia Cornaro Piscopia“, unterrichtete er mich. Ein Name, der es in sich hat – wie die Namensträgerin selbst.

Ora et studia
Elena Lucrezia Cornaro Piscopia wurde am 5. Juni 1646 in Venedig geboren. Die Cornaro Piscopia gehörten zur Oberschicht der venezianischen Republik, allerdings schadete die lange, außereheliche und kinderreiche Beziehung von Elena Lucrezias Eltern sowie die bescheidene Herkunft ihrer Mutter Zanetta Boni dem Familienprestige. Cornaro Piscopias Vater bemühte sich auf verschiedene Art, den guten Ruf der Familie wiederherzustellen. Der Historiker Ruggero Rugolo interpretierte Giovanni Battista Cornaro Piscopias Streben nach Ansehen als eine Quelle für Elenas wissenschaftlichen Eifer – die Familie sollte glänzen, warum nicht auch dank der brillanten Tochter? Ab ihrem siebten Lebensjahr erhielt Cornaro Piscopia eine klassische Bildung. Neben Griechisch, Latein, Literatur und Philosophie standen später noch Hebräisch, Aramäisch, Arabisch, Französisch, Spanisch, Musik, Astronomie, Geografie, Mathematik und Naturwissenschaften auf dem Lehrplan. Mit dem Christentum setzte sich Cornaro Piscopia als Studentin der Theologie und als tiefgläubige junge Frau auseinander. Als sie 19 Jahre alt war, wurde sie Oblatin, legte ein Keuschheitsgelübde ab und lebte nach den Regeln des Benedikt von Nursia. Zu diesem Anlass wählte sie einen neuen zusätzlichen Vornamen aus: „Scholastika“, den Namen der Schwester Benedikts von Nursia, der freilich auch Assoziationen mit Schule und Bildung weckt. Theologie war auch das Fach, in dem Cornaro Piscopia promovieren wollte. Allerdings sprach sich Gregorio Barbarigo, der Bischof von Padua und Rektor der dortigen Universität, strikt dagegen aus – die Promotion einer Frau in Theologie würde die Universität vor der ganzen Welt lächerlich machen, so seine Befürchtung.

Ein bisschen Freiheit, für einige
Aus heutiger Sicht zeigt diese Entscheidung, dass trotz des liberalen Mottos der Universität von Padua, „Universa universis Patavina libertas“ („Die gesamte Freiheit [der Universität] von Padua ist allen eigen“) zu diesem Zeitpunkt noch Luft nach oben war, was die Freiheit von Akademikerinnen betraf. Aber Cornaro Piscopia war immerhin belesen genug, um einfach ein anderes Fach für ihre Promotion auszusuchen. Am 25.6.1678 konnte Elena Lucrezia Cornaro Piscopia schließlich vor eine Kommission treten, um in Philosophie zu promovieren. Sie präsentierte ihre Dissertation und referierte über zwei Thesen des Aristoteles, die ihr per Los zugewiesen worden waren. Sie meisterte ihre Prüfung, wie von allen erwartet, mit Bravour und gilt somit als erste laureata auf der italienischen Halbinsel. Schon bald nach ihrer Promotion sorgte sich ihr Lehrer und Förderer Carlo Rinaldini zunehmend um Cornaro Piscopias Gesundheit, klagte über ihr hohes Arbeitspensum und ihren asketischen Lebensstil. Tatsächlich erkrankte Cornaro Piscopia immer wieder und verstarb 1684 mit nur 38 Jahren, sechs Jahre nach ihrer Promotion. Sie wurde in der Basilika Santa Giustina in Padua beigesetzt, der Abteikirche eines Benediktinerklosters, was an ihren Herzensorden erinnert.

Und dann?
Nachdem Elena Lucrezia Cornaro Piscopia die Vernichtung ihrer Schriften nach ihrem Tod angeordnet hatte, ist nur wenig aus ihrer eigenen Feder erhalten. Warum sie sich dafür entschied, bleibt offen. Wollte die tiefgläubige Frau nicht hochmütig wirken? Hatte sie schon zu Lebzeiten genug Aufmerksamkeit bekommen, als sie ihr Vater als Wunderkind herzeigte? Hat es etwas mit dem heute unter Frauen und Minderheiten häufig verbreiteten Imposter-Phänomen zu tun? In jedem Fall spielte Cornaro Piscopia bis zum dreihundertsten Jahrestag ihrer Promotion keine besondere Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung. Heute erinnert die Universität von Padua freilich gerne an ihre besondere Alumna. Im Souvenirladen der Hochschule schmückt Cornaro Piscopia Tassen und Kühlschrankmagnete, im historischen Universitätssitz, dem Palazzo del Bo, verabschiedet eine Statue der Cornaro Piscopia Besucher*innen nach einem Rundgang, und ein nach ihr benannter Preis zeichnet Frauen für besondere Verdienste in Lehre und Forschung an der Universität von Padua aus. Allerdings nennt auch diese Institution die Dinge beim Namen: Nichts weist darauf hin, dass sich Cornaro Piscopia als Frauenrechtlerin oder Wegbereiterin verstand und auch eine Revolution setzte sie nicht in Gang. Die nächsten Frauen sollten auf der Halbinsel erst Jahrzehnte später promovieren, und erst zwei Jahrhunderte nach Cornaro Piscopias Tod wurde dies im Königreich Italien üblicher. Die Folgen dieser gesetzlichen und kulturellen Veränderungen tragen heute natürlich Früchte – jüngste ISTAT-Zahlen zeigen, dass teilweise sogar mehr Studentinnen als Studenten in italienischen Hörsälen sitzen, die ihr Studium zudem oft schneller und besser abschließen als ihre Kommilitonen. Dennoch bilden Frauen noch eine kleine Minderheit in naturwissenschaftlichen und technischen Fächern, und oft werden die Karrieren der brillanten Absolventinnen weniger glänzend als die der Kollegen. Deshalb bedarf es auch hier noch Zeit – und Mühen.

Denkmal von Elena Lucrezia Cornaro Piscopia im Palazzo del Bo in Padua © Wikipedia/Didier Descouens CC BY-SA 4.0
Lisa Settari © Olivia Kieser
Lisa Settari ist seit Mai 2024 Vorstandsmitglied im Frauenarchiv Bozen/Archivio storico delle donne di Bolzano. Studium der Politikwissenschaften und der Europäischen Frauen- und Gendergeschichte. Derzeit lehrt sie am Germanistikinstitut der Universität von Iaşi (Rumänien).

Speak

Wo der Körpersprechen darf – und gehört wird

// Kathinka Enderle //
Seit 2005 begleitet Julianna Köcse in Tramin Menschen durch ihre Arbeit als medizinische Masseurin – und berührt dabei nicht nur Muskeln und Haut, sondern oft auch tiefere, seelische Schichten.
© pexels
In der Praxis der medizinischen Masseurin Julianna Köcse geht es um weit mehr als das Lösen von Verspannungen. Es geht um Körperwahrnehmung, um Selbstfürsorge und manchmal, in gewisser Weise, auch um Heilung. „Berührung ist ein Grundbedürfnis“, sagt sie. „Wir brauchen sie genauso wie Nahrung und Schlaf. Ohne Berührung verkümmern wir – körperlich wie emotional.“ In einer zunehmend digitalen und distanzierten Welt bekommt diese Erkenntnis eine besondere Bedeutung. Gerade Frauen, die viel leisten, verlieren im Alltag oft das Gespür für sich selbst. Sie funktionieren, aber sie fühlen sich nicht mehr.

Vom Objekt zum Subjekt: der Körper als Selbst
Was bedeutet es, mit einem Frauenkörper zu leben – in einer Welt, die ihn ständig bewertet, formt, kontrolliert? „Der weibliche Körper wird oft politisch”, sagt Julianna. Er wird sexualisiert, eingeengt, kommentiert und selten als das gesehen, was er ist: ein lebendiger, intelligenter, kraftvoller Ort. In Medien, Werbung und sogar im Gesundheitswesen wird er oft auf Funktion und Erscheinung reduziert. Schönheit wird zur Pflicht. Weiblichkeit zur Maske. „Viele Frauen, die zu mir kommen, tragen eine Geschichte in ihrem Körper“, sagt Julianna. „Von Unsicherheit, Entfremdung, Scham – manchmal auch von Gewalt. All das hat Spuren hinterlassen. Und all diese Spuren dürfen und müssen gesehen werden.“ Ihre Arbeit würde in dem Sinne hier nicht nur körperliche Entspannung bieten, sondern einen geschützten Raum, in dem Frauen sich selbst wieder begegnen können – jenseits von Blicken, Erwartungen und Rollen. Nicht im Spiegel, nicht in Zahlen oder Normen, sondern in Berührung, Atem, Gefühl.

Keine Baustelle, sondern Verbündung
Für Julianna ist Massage keine neutrale Technik, sondern eine bewusste, zärtliche Form der Körperarbeit. Eine Einladung zur Selbstermächtigung, gerade in einer patriarchal geprägten Gesellschaft, die Frauenkörper kontrolliert, sexualisiert und oft als Objekt behandelt. „Ich mache nichts gegen den Körper, ich arbeite mit ihm“, sagt sie. „Ich höre zu, was er erzählt. Ich lade Menschen, und gerade uns Frauen, ein, sich selbst zuzuhören. Nicht, um sich zu optimieren, sondern um zu verstehen. Wenn eine Frau beginnt, ihren Körper als Verbündete zu erleben und endlich nicht als Feind, nicht als Baustelle, dann entsteht eine neue Art von Selbstliebe. Eine, die nicht von Anderen abhängt, sondern aus dem eigenen Inneren wächst.”

Gesellschaftlich gelernte Scham umlernen
Viele Frauen bringen Unsicherheit mit: über ihre Haut, ihre Form, ihre Verletzlichkeit. Diese Scham ist tief verankert, gesellschaftlich gelernt und über Generationen weitergegeben. „Diese Scham darf Platz haben“, sagt Julianna. „Ich bewerte sie nicht. Ich nehme sie ernst und halte einen Raum, in dem sie sich wandeln darf.“ Massage wird so zur Gegenkultur. Ein Frauenkörper muss nichts leisten, nichts beweisen. Er darf einfach sein. Und allein das sei für Julianna oft schon ein Schritt in Richtung Heilung.

Weiblichkeit gehört dir
Für Julianna ist auch die Weiblichkeit kein starres Konzept. Sie ist kein äußeres Merkmal, sondern ein innerer Zustand von Verbindung. Eine Haltung. Eine sanfte Stärke, die sich in Selbstachtung und Fürsorge zeigt, jenseits von gesellschaftlichen Ansichten. „Weiblichkeit bedeutet für mich, meinem Körper zuzuhören. Ihn zu nähren, zu schützen, nicht, weil ich muss, sondern weil ich will.“ Es sei wichtig, den eigenen Körper so zu akzeptieren, wie er ist – unabhängig von Form, Alter, Geschlechtsidentität oder gesellschaftlicher Zuschreibung. Weiblichkeit dürfe vielfältig und persönlich sein. Sie gehöre jeder Person, die sie für sich selbst definiert.

Wenn Belastung unter die Haut geht
In ihrer Ausbildung hat Julianna selbst erfahren, wie tief der Körper erinnert und wie heilsam achtsame Berührung sein kann. „Ich habe gelernt, dass Schmerz oft nicht da entsteht, wo man ihn spürt. Der Körper ist intelligent. Er speichert, aber er kann auch loslassen, wenn wir ihm zuhören.“ Gerade während der Pandemie wurde ihr auch deutlich, wie sehr psychische Belastungen sich im Körper zeigen: in verspannten Schultern, Magenschmerzen, Enge im Brustraum. „Massage war in dieser Zeit oft nicht nur Linderung, sondern ein stiller Befreiungsmoment, vor allem für Frauen.“


Ganz: von Anfang an
Unsere Welt erzieht Frauen leider zu oft dazu, sich selbst zu vergessen. In diesem Kontext wird Selbstfürsorge zu etwas zutiefst Politischem, zu einem radikalen Akt der Rückeroberung. Sie ist eine bewusste Rückverbindung zum Ursprung und eine Einladung, den eigenen Körper nicht länger als Objekt zu betrachten, sondern ihn als lebendiges Zuhause zu erleben. „Heilung unserer Frauenlinie heißt für mich: zurück in den Körper kommen. In die eigene Wahrheit. In das, was wirklich da ist. Ohne Maske, ohne Urteil.“ Gerade heute, wo Frauenkörper kontrolliert werden, wird vor allem jede respektvolle, achtsame Berührung zu einem Akt der Selbstermächtigung. Sie erinnert uns daran, dass unser Körper nie perfekt sein musste, sondern von Anfang an ganz war. „Berührung kann uns wieder mit dem Leben verbinden“, sagt Julianna. „Mit uns selbst. Mit unserem innersten Kern.“

Du bist genug - genau so, wie du bist
Massage sei kein Allheilmittel. Aber sie könnte ein Anfang sein. Ein Moment der Rückverbindung. Ein Impuls für eine andere Art, sich selbst zu begegnen – mit Achtung, mit Wärme, mit Vertrauen. Für Frauen hat sie einen Wunsch: „Entdecke die Kraft der Berührung. Sie ist kein Luxus, sondern dein Recht. Spür dich selbst. Spür deine Kraft. Du bist genug – genau so, wie du bist.“