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Sanismus: schon mal davon gehört?

// Heidi Ulm //
Ich selbst kannte den Begriff nicht und Sie? Als ich mit meiner Recherche begann, wurde mir klar, dass fast jeder schon mal Sanismus ausgeübt hat, bewusst oder unbewusst.
Was bedeutet nun aber Sanismus? Sanismus beschreibt die Diskriminierung vor allem von Menschen mit (diagnostizierten oder vermeintlich) psychischen Erkrankungen, kognitiven Behinderungen oder Neurodivergenzen. Dabei werden Betroffene auf ihre Diagnose reduziert und mit abwertenden Begriffen beschrieben. Neu ist der Begriff übrigens nicht: Bereits vor rund 40 Jahren nutzten Betroffene in den USA ihn, um ihre Erfahrungen zu beschreiben. Und doch wird er bis heute selten benutzt. Stattdessen ist häufiger von „Ableismus“ die Rede, also von Diskriminierung aufgrund einer Behinderung. Psychische Erkrankungen werden hierbei zwar mitgedacht, in der Praxis jedoch oft vergessen – und genau hier setzt der spezifischere Begriff Sanismus an.

Wähle deine Worte mit Bedacht
Sanismus zeigt sich meist nicht in lauten, offensichtlichen Handlungen, sondern eher in unscheinbaren Alltagssituationen. Wenn eine Einladung gar nicht erst ausgesprochen wird, „weil es ihr bestimmt zu viel ist“. Wenn jemand als „fragil“, „hysterisch“ oder „verrückt“ abgestempelt wird. Kleine Gesten und Worte – scheinbar harmlos, aber mit großer Wirkung: Sie grenzen aus, entwerten und verstärken alte und kreieren neue Vorurteile. Zudem tragen diese Zuschreibungen eine dunkle Historie in sich. Sie erinnern beispielsweise an Zeiten, in denen Frauen als „hysterisch“ galten, um sie zu entmündigen und Menschen mit psychischen Erkrankungen eingesperrt oder misshandelt wurden.
Die sanistische Haltung führt auch zum sogenannten „Othering“: Hier die „Funktionsfähigen, Belastbaren und Normalen“ und auf der anderen Seite die „Kranken, Gefährlichen, Abnormalen“. Sanismus dient also als Rechtfertigung für die Unterdrückung. Die angebliche Minderwertigkeit wird damit begründet, dass die betroffenen Menschen nicht rational oder vernünftig handeln könnten, zu gefühlsbetont, irrational oder unverantwortlich seien.

Reflexion als ein Teil der Lösung
Wir alle sind nicht gefeit vor dem Ausüben von Sanismus, denn gesellschaftliche Normen und Vorurteile prägen unser Denken und unsere Sprache – oft unbewusst. Umso wichtiger ist es, diese Mechanismen zu erkennen. Selbstreflexion, Sensibilisierungstrainings und der Austausch in Gruppen können dabei helfen. Es geht dabei nicht darum, unsere Sprache zu diktieren oder etwas zu verbieten. Vielmehr geht es darum zu erkennen, dass bestimmte Begriffe Menschen entwürdigen, Stereotype verstärken und gesellschaftliche Einstellungen prägen können. Gleichzeitig gibt es einen inklusiven, nicht-diskriminierenden Sprachgebrauch, der alle einbezieht.
Wichtig ist, die Person und ihre individuellen Erfahrungen in den Vordergrund zu rücken, und nicht ihre Diagnose und die damit verbundenen pauschalen Vorurteile. Der direkte Austausch mit Betroffenen ist dabei unverzichtbar, um das auch wirklich umzusetzen. Sprache ist also eine große Waffe, um weiter zu marginalisieren oder eine Stimme zu verleihen.

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s'Muschi-Ding voll durchziachn #4

// Hannah Lechner //
© Elisabeth Öggl
„lespisch“
Liebe Lesende,
dieses Muschi-Ding ist anders: weniger zynisch und überspitzt, weniger gesellschaftsanalytisch – mehr nach innen gerichtet, unsarkastisch ehrlich, vulnerabler. Am vergangenen 28. Juni stand ich am Bozner Verdiplatz und wartete darauf, dass sich die erste Südtiroler Regenbogenparade in Bewegung setzen würde. Links von mir meine Schwester, rechts meine Freundin und vor meinem inneren Auge ein kleiner, imaginärer Ladebalken: „Closeted self healing“.1 Noch vor zwei Jahren wäre dieses Szenario für mich unvorstellbar gewesen: Meine Schwester und ich, all out and proud, in Südtirol. Wir waren extra hergekommen.
Ein paar Tage später war ich zu Besuch bei meinen Eltern und fand – die Ereignisabfolge wirkte beinahe geskriptet – auf der Suche nach etwas anderem in einer Kiste in meinem alten Zimmer einen Brief. Ich hatte ihn vor 16 Jahren an eine Mittelschulfreundin geschrieben, ihr aber offenbar nie gegeben. Auf vier Seiten breitet mein 13-jähriges Ich seine größte Angst aus: „Wos war, wenn i lespisch war??“ Ich konnte mich dran erinnern, dass meine Sexualität in dieser seltsamen Zeit zwischen Kindheit und Jugend ein SEHR großes Thema für mich war. Aber die Explizitheit, mit der ich im Brief über meine Empfindungen schreibe, flashte mich: So war mir – verwendete ich auch doppelte Konjunktive und schrieb „lespisch“ durchgehend mit hartem p – offenbar sehr klar, dass es romantisch-sexuelle Anziehung war, die ich gegenüber anderen Mädchen empfand. Und dabei trieb mich die Neugierde, mich in ein solches zu verlieben, nahezu in den Wahnsinn: „WIA ISCH DEIS??,“ schrieb ich doppelt unterstrichen, „I kriag die Krise!!!“
Die unschuldige Leichtigkeit meiner Fantasien – „woasch i stell mr deis nor ollm sou vour: Summer, Schwimmbod, und nor ischs holt a Madl gstott an Bua“ – berührte mich und viele meiner Fragen – „wennma oamol lespisch wor, konnma nor ah wieder normal wearn??“ – ließen mich, trotz bitterem Beigeschmack, auflachen. Und gleichzeitig versetzten mir die Einsamkeit und Scham, die in meinen Zeilen stecken, einen tiefen Stich: das Gefühl, voller verwirrender Gedanken und Gefühle zu sein, mich aber niemandem anvertrauen zu können, die Angst, was andere über mich denken und ob sie mich noch mögen würden, die sich ständig wiederholende und wohl mehr an mich selbst gerichtete Beteuerung, es handle sich nur um pubertäre Verwirrungen, die irgendwann (hoffentlich!!) aufhören würden, die abschließende Feststellung, ich könne mich selbst so nicht akzeptieren und würde diesen Brief deswegen hassen.
Zwischen den losen Zetteln am Boden sitzend und sehr davon eingenommen, schickte ich den Brief an meine Schwester, nahm ihn einer befreundeten Person als Sprachnachricht auf, las ihn meiner Freundin am Telefon vor, gab ihn schließlich A., für die er damals gedacht war. Ich würde mein Vergangenheits-Ich gern in den Arm nehmen und ihr all die Fragen beantworten, die schon damals laut drängend unter der Haut brannten, stattdessen aber sorgfältig und für lange Zeit ganz tief ins Innerste verbannt werden sollten. „Wia sichs ounfühlt?“, würde ich gern sagen, „Fucking schean!! Ehrlich und echt und sehr, sehr frei. Und weißt du was? Ich war letztens auf der Pride in Bozen. Und ich war laut und sichtbar verliebt.“
1 Dass eine Person „in the closet“ oder „closeted“ (also metaphorisch „im Schrank“) ist, bedeutet, dass sie ihre sexuelle/romantische Orientierung und/oder Geschlechtsidentität vor anderen geheim hält. Damit verbunden ist der Begriff „Coming Out“, kurz für „coming out of the closet“, also „aus dem Schrank kommen.“