Kinderlosigkeit

Mutter-Sein: Lass mich in Ruhe, liebe Gesellschaft!

// Hannah Lechner //
Was ich mir von dir wünsche, liebe Gesellschaft, mag auf den ersten Blick widersprüchlich scheinen. Ich wünsche mir, dass wir reden: Darüber, dass Frau und Mutter sein (wollen) nicht unzertrennlich miteinander verbunden sind und dass die Vorstellung, der einzige Weg hin zum absoluten Höhepunkt jeder weiblichen Biografie führe nicht am Kreißsaal vorbei, keine allgemein gültige Wahrheit ist, sondern eine kulturell gewachsene. Und gleichzeitig wünsche ich mir, dass wir NICHT reden: Ich will in Ruhe gelassen werden mit intimen Fragen und stillschweigend vorausgesetzten Annahmen darüber, wie mein Leben verlaufen wird, nur weil ich einen Uterus habe. Lass mich das erklären.

Es gilt für Vorstellungsgespräche – zumindest in der (meist missachteten) Theorie: Die Frage nach der Familienplanung sollte tabu sein. Wo es umso weniger zu gelten scheint, ist das Privatleben: „Du bist jetzt schon echt lang in einer Beziehung, wie sieht’s bei dir aus mit dem Kinderwunsch?“ und „Hast du vor, bis Mitte 30 zu studieren? Dann wird’s schon langsam knapp…“ und „Wenn du selbst mal Mutter bist, wirst du das verstehen...“ und „Ist das überhaupt mit einer Familie vereinbar, was du da machst???“ Stopp, liebe Gesellschaft! Und: Sei doch ein bisschen sensibel! Aussagen wie diese sind im Privaten genauso wenig okay, wie in professionellen Kontexten. Die Person, die vor dir steht, könnte gerade eine Fehlgeburt erlebt haben, sie könnte sich Kinder wünschen aber nicht schwanger werden können, sie könnte sich für eine Abtreibung entschieden haben oder – Achtung – ganz einfach keine Kinder wollen.
Als Mädchen und auch noch als Jugendliche bin ich fest davon ausgegangen, dass ich eines Tages Mutter sein würde – ich habe eine solche Zukunft einfach nie in Frage gestellt. Ich war davon überzeugt, dass der Wunsch nach der ultimativen Erfüllung, von der du mir so oft erzählt hattest, sich früher oder später einschleichen und langsam zu wachsen beginnen würde, um irgendwann all die anderen Wünsche in meinem Leben zu überschatten und mich auf das Ticken meiner biologischen Uhr aufmerksam zu machen. Bisher warte ich vergeblich: Ich horche in mich und taste in Gedanken jeden Winkel meines Körpers ab auf der Suche nach dem scheinbar Unausweichlichen, nach meiner vermeintlichen Bestimmung, meinem mütterlichen Urinstinkt. Und ich finde: Nichts. Keinen noch so zarten Wunsch, kein noch so leises Ticken. „Ach“, seufzt du jetzt und schaust leicht belustigt auf mich herab, „was weißt du schon mit Mitte 20? Studier erst mal fertig, werd finanziell ganz unabhängig, dann reden wir weiter.“
Es ist paradox. In allen möglichen Lebensbereichen traust du mir „große“ Entscheidungen zu, ja verlangst sie geradezu von mir – ich bin ja schließlich Mitte 20 (bzw. gehe ich in diesen Kontexten sogar „auf die 30 zu“): Ich soll die richtige Versicherung auswählen und das Kleingedruckte in Verträgen verstehen, ich soll eine klare Vorstellung davon haben, wo es beruflich für mich hingehen wird, ich soll Fristen einhalten und verantwortungsbewusst mit meinem Körper umgehen, ich soll, ich soll, ich soll. Geht es um die Entscheidung, ob das Mutter-Sein in meiner Lebensplanung vorkommen wird, dreht sich der Spieß plötzlich um. Dann schiebst du den in meinem Kopf mehr und mehr Form annehmenden Gedanken, dass dem auch nicht so sein könnte, auf meine Lebensumstände und die Entscheidung wissend lächelnd noch ein paar Jahre auf, um die Option der selbstgewählten Kinderlosigkeit gar nicht erst in den Raum stellen zu müssen, um das scheinbar Unaussprechliche nicht auszusprechen: „Du weißt ja gar nicht, wie sich Mutter-Sein anfühlt! Das willst du doch nicht verpassen!?“

Du hast Recht – ich weiß es nicht. Vielleicht wache ich eines morgens auf und werfe meinem Vergangenheits-Ich im Spiegel dasselbe wissende Lächeln zu – das wäre okay! Vielleicht aber auch nicht. Was ich von dir will, liebe Gesellschaft, ist Raum für Zweiteres. Ich will, dass du akzeptierst, dass ich okay damit sein könnte, es nicht zu wissen. Wenn ich im Park liege oder im Schwimmbad und Eltern ihren Kindern zwischen Schaukel und Rutsche hinterherlaufen sehe, fühle ich einfach nur eins: Ich sehe mich nicht in dieser Rolle. Die Vorstellung, mein restliches Leben um ein anderes kleines Wesen zu planen, löst in mir keine Freude aus, sondern Bauchschmerzen. Aber du machst mir solche Angst davor, etwas wirklich Wichtiges zu verpassen, die einzige Chance auf das, was meinem Dasein endgültig Sinn verleihen wird (erzählst du Männern dasselbe?), dass ich meinen eigenen Gefühlen misstraue. Du beschwörst immer und immer wieder das schlimmste aller Reuegefühle, bis ich ernsthaft darüber nachdenke, ob ich mir aus „ideologischen“ Gründen selbst im Weg stehen könnte – weil ich zu viel Feminismus inhaliert habe und deswegen jetzt zu wütend bin.

Versteh mich nicht falsch: Ich mag Kinder – ich kann sogar sehr gut mit ihnen! Ich verbringe Stunden damit, mir Geburtstagsgeschenke für mein Patenkind auszudenken, ich bastle die kreativsten Gutscheine und plane die besten Ausflüge. Ich habe als Sommerschulbetreuerin gearbeitet und als Babysitterin. Ich bin die Person, die zurücklächelt und winkt, wenn sie in der Straßenbahn aus großen runden Augen angeschaut wird. Und ich glaube auch, dass Mutter-Sein etwas Wunderschönes sein kann! Ich möchte nur einfach, dass du die Option, keine sein zu wollen, genauso wohlwollend offenlässt. Dass du Kinderlosigkeit als mögliches Ergebnis einer bewussten Entscheidung akzeptierst und damit aufhörst, Lebensmodelle, in denen Mutterschaft nicht vorkommt, als das Gegenteil des Normalen, als den ultimativen Ausdruck von Egoismus darzustellen. Dass du damit aufhörst, mit ausgelutschten Wahrheiten um dich zu werfen und Mädchen und jungen Frauen immer wieder von DER Erfüllung zu erzählen, statt von EINER möglichen Form von Erfüllung unter vielen. Hör auf, sie zu fragen, ob ihre beruflichen Pläne mit Kindern vereinbar sind, und frag sie lieber, was sie sich denn wirklich vom Leben wünschen. Hör auf, ihnen Angst vor Reue zu machen und schaff lieber Raum für Zweifel, Vielfalt und Entscheidungsfreiheit. Und sei manchmal einfach nur still und lass sie in Ruhe!

Young

Aus einer Raupe wird ein Schmetterling

// Kathinka Enderle //
Bei Paula (9) wurde eine hochfunktionale Autismus-Spektrum-Störung festgestellt, auch als das Asperger-Syndrom* bekannt. Während andere Kinder ein „normales“ Leben führen können, sieht Paulas Welt etwas anders aus. Paulas Mutter Marion würde Sie gerne in Paulas und ihr Leben eintauchen lassen und Ihnen von ihrer besonderen Geschichte erzählen.
© Kelly Sikkema / Unsplash
Ein Leben wie im Bilderbuch, das bald zu einem sozialen Albtraum wurde
„Als ich erfahren habe, dass Paula nach langem Probieren endlich auf dem Weg ist, wurde mein Traum wahr. Ich habe mich auf meine kleine Maus gefreut und mir die Zukunft wie in einem Bilderbuch ausgemalt. Als Paula schließlich zur Welt gekommen ist, war sie ein Traumbaby. Sie hat durchgeschlafen, kaum geweint und war meist sehr ruhig. Das perfekte Anfängerbaby. Trotzdem habe ich recht schnell bemerkt, dass sie im Vergleich zu anderen von Anfang an anders war. Meine Vorstellung hat sich recht schnell geändert. Die Erfahrungen, die mein Kind im Laufe ihres Lebens mit der Gesellschaft machen musste, hätte ich mir nie vorstellen können.“
Hochbegabung: Fluch oder Segen?
„Paula hat sehr schnell damit angefangen, meinem Mann und mir von ihrer Welt zu erzählen. Anfangs redete sie nur in ihrer Babysprache, dann aber recht schnell in ganzen Sätzen. Sie hat immer viel gesprochen und sich nahezu eloquent ausgedrückt. Oft hatten wir als Eltern den Eindruck, es wäre, als ob sie sich nur unter Erwachsenen befinden würde, weil sich ihre Sprache so schnell entwickelte. Dabei verbrachte sie ihre Zeit mit anderen Kindern im Kindergarten und auch in der Freizeit versuchten wir uns oft mit anderen Familien zum Spielen zu verabreden. Sonderlich interessiert hat sie das allerdings nie. Ihre Motorik war im Vergleich zu den anderen Kindern sehr langsam und verzögert. Paula hat sich immer für Lesen oder intellektuelle Dinge begeistern können. Sie dazu zu animieren, allein von einer Rutsche zu rutschen oder die Höhen der Klettergerüste zu erkunden, war eine Herausforderung, die man kaum gewinnen konnte. Die größte Freude hatte sie immer, wenn man ihr etwas vorgelesen hat, sie zeichnen oder malen durfte, man nebenbei ein Hörbuch anmachte oder sie Puzzle spielen ließ. Ich war immer stolz darauf, dass Paula so schnell versteht, sich so großartig ausdrückt und man mit ihr schöne Gespräche führen konnte. Ich habe oft gestaunt, was sie alles kann. Ihre Hochbegabung war schnell bemerkbar, bald auch für andere. Als wir das erste Mal mitbekamen, dass Paulas Eigenschaften anderen ein Dorn im Auge sind, wussten wir noch nicht, was auf uns zukommen wird.“
Das gebrochene Herz einer Mutter
„Später, als Paula in den Kindergarten und schließlich auch in die Grundschule ging, wollte sie nie hin. Sie wollte immer daheimbleiben und hier spielen oder lernen. Freunde hatte sie kaum. Es gab wenige Kinder, auf die sie sich fixieren konnte, aber auch die fanden sie immer eigenartig und mobbten sie früher oder später, weil sie eben nicht der Norm entspricht. Auch bei Ausflügen ging sie nie gern mit. Ihre soziale Situation hat uns immer etwas gewundert, da sie sonst Kindern beim Spielplatz offen begegnete und ihnen immer ganz enthusiastisch zeigen wollte, welch Vielfalt an Steinen oder Blätter und Blumen sie sammelte. Leider wurde Paula im schulischen Kontext aber immer als die Außenseiterin abgetan, die einfach „komisch“ war. Sie war zwar da, egal ob im Kindergarten oder in der Schule, aber richtig dazugehört hat sie nie. Paula wurde kaum gesehen. Als Mutter bricht das einem das Herz.“
Körperliche Verletzungen abgetan als Lügengeschichten
„Schon seit dem Kindergarten wurde sie mit Mobbingerfahrungen konfrontiert. Am schlimmsten war es, dass sie oft als Lügnerin dargestellt wurde, wenn sie davon berichtete, wie jemand sie wörtlich oder sogar körperlich verletzt hat. Dabei haben vor allem körperliche Verletzungen gezeigt, dass ihre Erzählungen der Wahrheit entsprachen. Auch mein Mann und ich wurden als Lügner dargestellt, als wir uns an die Kindergartenpädagog*innen gewandt haben. Ab dem Moment setzte tatsächlich die Verzweiflung ein. Dass ein Kind gemobbt wird, weil es die Welt etwas anders sieht, womöglich sozial nicht so affin ist wie andere, aber dafür anderweitige wichtige Fähigkeiten hat, ist für mich immer noch schwer zu verstehen. Wir haben uns als ihre Eltern oft gefragt, warum sie den Anschluss nicht findet. Auf die Diagnose ‚Autismus‘ wären wir selbst nie gekommen.“
Über das Jeansproblem, Routinen und die Familiensituation
„Unser Alltag ist immer vollgepackt. Neben der Schule unterstütze ich sie in der Freizeit. Wenn sie etwas interessiert, versuche ich ihr mit kindergerechten Dokumentationen einen Wissenszugang zu bestimmten Themen herzustellen. Ansonsten lasse ich sie spielen oder bringe sie zum Sport. Aktuell möchte sie alles über die Anatomie des Menschen wissen. Zu sehen, wie wissbegierig sie ist, ist für meinen Mann und mich schön. Paula war immer eine Vatertochter, aber für ihn werden die Probleme, die manchmal auftreten, etwas zu viel bzw. er weiß oft nicht, wie er mit Situationen umgehen muss. Ein Beispiel dafür ist unser früheres ‚Jeansproblem‘, haha. Von Jeans bekommt Paula eine Reizüberflutung, deshalb trägt sie lieber Kleider oder Stoffhosen. Anfangs schrie sie, wenn sie Jeans anziehen sollte. Darauf, dass das mit dem Stoff, dem engen Schnitt am Bauch und den Knöpfen, die sie nicht mag, zusammenhängt, muss man erstmal kommen. Wenn sie geschrien hat, weil diese Sinneseindrücke zu viel wurden, war es schon intensiv. Auch wenn es unter vielen Menschen lauter wurde, hat sie sich panisch die Ohren zugehalten und teilweise geweint. Sonst hält sie gern an Routinen fest. Unser Ablauf am Morgen und Abend ist immer derselbe. Paula ist mit uns sehr zutraulich. Vor allem ist sie gern überall dort, wo ich auch bin. Ich möchte darauf achten, dass es ihr gut geht. Trotzdem bin ich oft im Zwiespalt, ob ich zu viel da bin oder während meiner Arbeit zu wenig. Der Gedanke, der mich immer verfolgte, war Paulas soziale Situation. Man trat sie so oft zu Boden, also möchte ich das zuhause kompensieren, damit es ihr besser geht.“
Der Lernprozess der sozialen Interaktion
„Ihre Stärken liegen vor allem in der Sprache oder kognitiven Aufgaben. Auch Mathematik gefällt ihr, weil sie gerne Zahlen variiert und damit ihre Welt erweitert. Ihre Schwächen liegen etwas im sozialen Bereich, aber daran arbeiten wir. Sie mag andere Kinder und würde gerne mit anderen spielen, aber die passende Mitte zwischen den Spielen, die sie mag, und dem, was andere mögen, muss erst mal gefunden werden. Klettergerüste mag sie nicht. Dafür liebt sie Mikado, Puzzle, eine Art ‚Mensch ärgere Dich nicht‘ nur mit Wissensfragen oder Stadt, Land, Fluss. Dann müssen Kompromisse her. Ein Spiel auf dem Klettergerüst, dafür eine Runde Stadt, Land, Fluss. Das ist ein wichtiger Lernprozess für soziale Interaktionen. Wir erklären ihr vorher, wofür so etwas gut ist, und dann setzt sie es um. Es macht Spaß, mit ihr zu wachsen.“
Wie ein Schmetterling, der blühen darf
„Für mich war es nie negativ, dass Paula anders ist. Aber nachdem so viel im Kindergarten und in der Schule passiert ist, mussten wir uns natürlich auch um psychologische Unterstützung kümmern. Als die erste Therapeutin mir bestätigte, dass Paula neurodivergent ist, hatte ich das Gefühl von ‚okay, jetzt fängt das Verstehen an. Jetzt muss ich mit Paula andere Wege gehen.‘ Uns ist es wichtig, sie zu stärken, ihre Interessen zu unterstützen und zu erweitern. Ihre Diagnose hat den Weg schließlich verändert. Ab da wusste ich mit Sicherheit, dass das Leben etwas holpriger und meiner Vorstellung nicht entsprechen wird. Aber irgendwo habe ich immer Hilfe erhalten, egal ob durch Therapeut*innen, Kurse, Bücher oder andere Menschen. Es ist wichtig anzuerkennen, dass Autismus keiner klaren Linie folgt. Ich dachte immer, autistische Menschen würden einem klaren Muster entsprechen. Mir war gar nicht bewusst, wie viele Schattierungen und Spektren es gibt. Nicht jede*r ist gleich und das ist auch nicht schlimm, solang man jede*n ernst nimmt und sieht. Ich bin mir sicher, dass Paula ihre Zukunft meistern wird. Jetzt, wo wir sie aus diesem toxischen Umfeld genommen haben und sie in einer passenderen Schule unterbringen konnten, geht es ihr auch sozial besser. Sie entwickelt sich bestens – wie eine Raupe, die aus ihrem Kokon schlüpfen konnte und nun als wunderschöner, einzigartiger Schmetterling blühen darf.“
„Das Asperger-Syndrom ist eine Kontakt- und Kommunikationsstörung […]. Typisch für diese Störung des Autismus-Spektrums sind Einschränkungen im Interaktionsverhalten, mangelndes Einfühlungsvermögen, intensive (Spezial-)Interessen und das Festhalten an Gewohnheiten und Ritualen.“