Wir sind im Verein Orient Express im 2. Wiener Bezirk. Der Verein wurde Ende der 80er in Selbstorganisation von türkischsprachigen Frauen für türkischsprachige Frauen gegründet, mit dem Ziel, Deutschkurse mit gleichzeitiger Kinderbetreuung und Freizeitangebote für die Vernetzung innerhalb der Community anzubieten. Heute umfasst er weit mehr Arbeitsbereiche: Er betreibt eine Beratungsstelle, in der türkisch- und arabischsprachige Sozialberatung angeboten wird, etwa mit Fokus auf Gewaltschutz und Scheidung, sowie Beratung zum Thema Zwangsheirat. Aus diesem thematischen Schwerpunkt haben sich auch die Schutzeinrichtungen des Vereins, die eine Not- und eine Übergangswohnung für von Zwangsheirat bedrohte oder betroffene Mädchen und Frauen bieten, entwickelt. Genauso wie die bundesweite Koordinationsstelle gegen Zwangsheirat und Verschleppung, die sich in Zusammenarbeit mit den Behörden darum bemüht, gegen ihren Willen ins Ausland gebrachte oder dort festgehaltene Mädchen und Frauen wieder zurück nach Österreich zu holen. Der letzte Arbeitsschwerpunkt des Vereins liegt, wie schon bei der Gründung, im Bereich der Bildung: In seinem Lernzentrum bietet Orient Express neben anderen Bildungsangeboten Basisbildungskurse an – einen solchen Kurs besucht auch Madineh.
Basisbildung als erwachsenengerechtes Lernen für bildungsbenachteiligte Frauen
„Basisbildung bedeutet erwachsenengerechtes Lernen und richtet sich an Menschen, die in ihrem Recht auf Bildung eingeschränkt worden sind. In erster Linie geht es um die Kompetenzen Lesen, Schreiben, Deutsch als Zweitsprache, Rechnen, digitale Kompetenzen und Lernstrategien“, erklärt Katharina Maly, Leiterin des Lernzentrums und eine der Vorständinnen des Vereins. Basisbildungskurse unterscheiden sich je nach Kursträger in ihren Schwerpunktsetzungen und ihrer Zielgruppe. Die Kurse im Orient Express richten sich explizit an bildungsbenachteiligte Frauen mit Migrationsgeschichte und das ist – wie Katharina findet – sehr wichtig: „Bildungsbenachteiligung ist ein Riesenthema, das intersektional betrachtet werden muss: Unsere Teilnehmerinnen sind als Frauen – wenn sie sich denn selber so verstehen – aufgrund ihrer Herkunft, in fast allen Fällen aufgrund ihrer ökonomischen Situation, manchmal aufgrund ihrer Religion und auf jeden Fall aufgrund ihrer Bildungsbenachteiligung von komplexen Formen von Mehrfachdiskriminierung betroffen. Wir richten uns an diese ganz spezifische Zielgruppe mit ihren ganz spezifischen Lernanforderungen, für die es gar nicht so viele Angebote gibt – vor allem nicht mit gleichzeitiger Kinderbetreuung, die für viele Frauen Teilnahmebedingung ist.“
Der Fokus der Basisbildungskurse im Orient Express liegt auf dem Alphabetisierungsprozess, also dem Erwerb von Lese- und Schreibkompetenz von Anfang an. Lena Knilli ist eine der Kursleiterinnen und sieht diese Rolle vor allem als „dienende“ Rolle: „In der Basisbildung geht es nicht darum, Bildung über jemanden drüberzustülpen, um einen ganz bestimmten Bildungsauftrag zu erfüllen. Natürlich muss ich irgendwo beginnen und mir auch sehr gut überlegen, wie ich was vermitteln kann, aber alles Weitere passiert immer in Kooperation und Kommunikation mit den Personen, die im Kurs sitzen. Ich als Kursleiterin versuche auf der Basis meiner Erfahrung die richtigen Übungen und Inputs auszuwählen, von denen ich denke, dass sie einer Teilnehmerin gerade weiterhelfen könnten. Ich setz das ein, was ich kann, um Dinge verständlicher zu machen.“ In Lenas Kurs kommen Frauen mit unterschiedlichen (Lern-)Biografien, Erfahrungen und Bedürfnissen. Einige sind schon über 60, andere erst Mitte 20 oder Anfang 30. Viele kommen, so wie Madineh, aus Afghanistan, andere kommen aus Syrien, dem Iran oder aus Somalia, viele haben traumatische Migrations- und Fluchterfahrungen hinter sich. Was die meisten gemeinsam haben, ist, dass sie in ihren Herkunftsländern nie die Schule besucht, in ihren Erstsprachen also keinen Zugang zu Schriftlichkeit erhalten haben. „So ein Kurs kann ganz unterschiedlich ausschauen“, erzählt Lena, „je nach Lernstand der Teilnehmenden. Am Anfang geht es z.B. darum, zu vermitteln, dass Buchstaben Symbole für Laute sind und sich zu merken, welcher Buchstabe welchen Laut abbildet. Ich versuche, dieses System durchschaubar und für die Teilnehmerinnen greifbar zu machen. Die Frauen in meinem aktuellen Kurs hingegen können schon alle Buchstaben, sie können zusammenlauten und sich fremde Worte erlesen, sind aber noch nicht ganz flüssig im Lesen, Verstehen und Verschriftlichen und brauchen da noch Übung.“ Auf die Frage, ob das Lesen- und Schreiben-Lernen schwierig für sie sei, antwortet Madineh: „Ein bisschen.“ Sie erzählt mir, dass sie neben Dari auch noch Paschtu, Farsi und Belutschi spricht und dass sie in Afghanistan in der Schneiderei und Weberei ihrer Mutter gearbeitet und diese nach deren Tod weitergeführt hat. Auf ihrem Handy schauen wir uns Fotos von handgewobenen Teppichen und ihren Töchtern in traditionellen afghanischen Kleidern an, die Madineh selbst genäht hat. Auch ihre Kinder sind vor sieben Jahren zusammen mit Madineh nach Wien gekommen, davor war die Familie acht Jahre im Iran. Die jüngste Tochter ist 18 Jahre alt und geht noch in die Schule, die anderen beiden arbeiten als Schneiderin und Konditorin, Madinehs Söhne als Informatiker und Postangestellter. Madineh selbst konnte, seit sie Afghanistan verlassen hat, ihren Beruf nicht mehr ausüben. Auf die Frage, was sie sich vom Kurs im Orient Express wünscht, antwortet sie: „Ich will noch länger im Kurs bleiben und besser lesen und sprechen lernen. Ich möchte z.B. beim Einkaufen alleine auf Deutsch sprechen können.“ Wie Madineh geht es vielen der Frauen darum, ihren Alltag selbstständiger zu bewältigen – sich allein in der Stadt orientieren zu können, einen Behördengang zu bewältigen, sich einen Termin bei der Ärztin auszumachen oder mit den Lehrpersonen ihrer Kinder besser kommunizieren zu können. Viele haben eine sehr hohe Lernmotivation und kommen gern in den Orient Express. So erzählt mir Esllah Hamo, die vor eineinhalb Monaten in Lenas Kurs eingestiegen ist: „Es gefällt mir sehr, sehr gut. Ich war in Syrien nie in der Schule, aber ich liebe es, zu lernen. Kurdisch ist meine Muttersprache, aber ich spreche auch Arabisch und Türkisch, jetzt lerne ich Deutsch. Ich will noch besser sprechen und lesen und schreiben lernen. Und ich möchte arbeiten.“ Esllah ist 57 Jahre alt, vor acht Jahren kam sie mit ihrer Familie aus Syrien in die Türkei, von dort aus fünf Jahre später nach Wien. Der Kurs im Orient Express ist ihr erster Basisbildungskurs, davor hat sie zu Hause mit ihrem 14-jährigen Sohn und ihrer 15-jährigen Tochter, die beide noch die Schule besuchen, begonnen, lesen und schreiben zu lernen. Esllah hat noch drei weitere Kinder, ihr ältester Sohn ist verheiratet und lebt in der Schweiz, ihre 21-jährige Tochter besucht eine berufsbildende höhere Schule in Wien und ihr 20-jähriger Sohn arbeitet in einer Wäscherei. Auf die Frage, ob ihre Kinder ihr manchmal mit den Hausaufgaben für den Kurs helfen würden, antwortet Esllah lachend: „Nur ein bisschen. Meistens mache ich sie allein.“
Im Spannungsfeld zwischen Zwang und Freiwilligkeit
Basisbildung basiert idealerweise also auf Freiwilligkeit, sie will Selbstermächtigung bildungsbenachteiligter Personen bewirken und gesellschaftliche Teilhabe gerechter verteilen – all das klingt aus Lenas und Katharinas Worten und auch Esllahs und Madinehs positiver Bildungsbezug passt in dieses Bild. Und dennoch passiert sie realistischerweise natürlich nicht im luftleeren Raum, sondern, wie Katharina betont, in einem Spannungsverhältnis: „Auf der einen Seite ist es der Wunsch vieler unserer Teilnehmerinnen, Deutsch zu lernen, sie möchten hier in Österreich in Kontakt treten, Teil dieser Gesellschaft werden, eventuell arbeiten etc. Auf der anderen Seite gibt es natürlich bestimmte Anforderungen von staatlicher Seite, dass Deutschkurse besucht werden, dass Prüfungen abgelegt werden, dass eine schnelle Arbeitsmarktintegration erfolgt. Das heißt, zwischen Freiwilligkeit und Zwang liegt ein Kontinuum und auch wenn die Frauen freiwillig in unseren Kursen sind und eben nicht im Rahmen einer bestimmten Maßnahme dazu gezwungen werden, ist es Interpretationssache, wo in diesem Kontinuum die jeweils individuelle Wahl getroffen wurde.“ Bildung sollte in Katharinas Augen ein Recht sein – ob sie im Erwachsenenalter auch eine Pflicht ist, stellt sie aus moralischer Perspektive stark in Frage. Sie plädiert für einen realistischen und deromantisierenden Blick auf Erwachsenenbildung: „Es wäre nicht richtig, zu sagen, dass alle Teilnehmerinnen herkommen, weil sie es als persönliche Ermächtigung empfinden, lesen und schreiben zu lernen. Lernen ist in jedem Lebensalter möglich, aber es verändert sich. Sich mit 40 bestimmte Kompetenzen zu erarbeiten ist nicht leicht – und nein, innerhalb weniger Monate Alphabetisierung abzuschließen, ist als Erwachsene nicht möglich, auch wenn dies oft gefordert wird.“ Auch Lena spricht die gesellschaftspolitische Rahmung an, innerhalb derer sich Basisbildung abspielt und die dafür sorgt, dass ganz bestimmte Formen von Wissen, Kompetenz und Leistung als wertvoll anerkannt werden und andere nicht: „Die Frauen, die in unseren Kursen sitzen, leisten extrem viel für die Gesellschaft. Sie ziehen die nächste Generation groß, sie sprechen teilweise sehr viele Sprachen, sie sind unheimlich lebensklug. Und dabei werden sie behandelt, als würden sie nichts können, ihre Leistung wird einfach nicht gesehen.“
Basisbildung als Safe Space und Empowerment
Wenn Geschlecht bzw. Gender auch nicht die einzige Identitätskategorie ist, die in Bezug auf Bildungsbenachteiligung eine Rolle spielt, so sei die Situation von Männern und Frauen im Hinblick auf ihre Bildungsmöglichkeiten dennoch oft sehr unterschiedlich, sagt Lena: „Frauen sind benachteiligt und Frauen, deren Familien Migrationsgeschichte haben, ganz besonders und vor allem auch systematisch in Österreich, das muss man leider sagen, weil Aufenthaltsstatus und Sozialleistungen auch an bestimmte Kompetenzen gekoppelt sind.“ Katharina und Lena würden sich also wünschen, dass ihre Arbeit unter anderen politischen, gesellschaftlichen und bürokratischen Rahmenbedingungen stattfinden könnte. Nichtsdestotrotz sei Bildung aber natürlich ein Schlüssel zur Autonomie innerhalb der bestehenden Verhältnisse und Basisbildung ein möglicher Safe Space, der Empowerment durch Gemeinschaft, Austausch und Lernerfolge ermöglicht: „Wenn man lesen und schreiben lernt, verändert man sich“, das würden Lena und ihre Teilnehmerinnen immer wieder erleben. Sie erzählt mir von einer Frau, die über mehrere Jahre in ihrem Kurs war. Weil sie die Aufschriften in den U-Bahn-Stationen nicht lesen konnte, fand sie sich in der Stadt allein nicht zurecht und musste immer von Familienmitgliedern oder Freundinnen in den Kurs begleitet werden. Zu einem Zeitpunkt, zu dem Lena rückblickend gar nicht mehr mit einem so großen Fortschritt gerechnet hätte, kam sie plötzlich allein in den Kurs und erklärte, sie könne die U-Bahn jetzt lesen und sich allein in der Stadt bewegen. „Das ist ein Plädoyer für die Zeit“, sagt Lena, „hier sieht man im Kleinen das Entwicklungspotenzial von Basisbildung, wenn sie in der Lage ist, den Teilnehmerinnen einen Raum zu bieten, in dem sie ihrem eigenen Tempo und ihren eigenen Bedürfnissen entsprechend lernen können.“ Dass dieser Raum im Orient Express geschlechtergetrennt ist, könne man, wie Katharina lachend anmerkt, gut oder schlecht finden. Der Verein finde es jedenfalls gut und auch die Teilnehmerinnen würden rückmelden, dass sie einen solchen Raum sehr wertschätzen.
Mobilität und „In Bewegung-Sein“ haben im Kontext von Flucht und Migration eine ganz andere Bedeutung als im Kontext vieler anderer Themen, die wir in diesem Heft aufgreifen. In meinem Text habe ich versucht, mich dem Thema aus der Perspektive des Ankommens in einem neuen Land und den damit verbundenen Hürden und Herausforderungen zu nähern und ganz spezifisch aus der Perspektive der Basisbildung. Diese ist für mich im Laufe des vergangenen Jahres, während ich selbst die Ausbildung zur Basisbildnerin gemacht und einige Monate als Praktikantin im Orient Express mitgearbeitet habe, zu einem wichtigen feministischen Anliegen geworden. Durch diesen Kontakt und Einblick ist auch dieser Text entstanden.