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Sichtbarkeit schaffen

// Kathinka Enderle //
Die Lebensrealität obdachloser Frauen
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Haben Sie schon einmal über die Frauen nachgedacht, die von Obdachlosigkeit betroffen sind? Wenn wir an Menschen ohne festen Wohnsitz denken, erscheinen uns oft Männer vor dem inneren Auge, die auf der Straße leben. Aber was ist mit den Frauen, die genauso in Wohnungsnot geraten? Wer sind sie und warum nehmen wir ihre Situation so selten wahr?
Warum bleibt weibliche Obdachlosigkeit oft im Verborgenen?
Viele betroffene Frauen versuchen, ihre Situation zu verbergen, indem sie bei Bekannten, Verwandten, in Zwangsgemeinschaften oder sogar in problematischen Beziehungen unterkommen. Doch heißt das, dass ihre Not weniger ernst ist, nur weil manche Frauen womöglich nicht direkt auf der Straße leben? Oft tun Frauen dies auch aus Scham, aber auch aus Angst vor den Gefahren, die das Leben im öffentlichen Raum für sie mit sich bringt.

Was bedeutet es, nachts auf einer Bank zu schlafen?
Die Gefahr von Übergriffen, Gewalt und Missbrauch auf der Straße ist für Frauen besonders hoch. Haben Sie sich einmal gefragt, wie es für eine Frau sein muss, nachts in einem öffentlichen Park oder auf einer Bank zu schlafen? Wie würde sich das anfühlen, ständig Angst zu haben und keinen sicheren Ort zu finden? Für viele Frauen ist die Vorstellung unerträglich, und sie suchen nach jedem anderen möglichen Ausweg – auch wenn dies bedeutet, sich in Abhängigkeiten zu begeben oder unzumutbare Lebensverhältnisse in Kauf zu nehmen.

Wer sind die Frauen, die in Notunterkünften Zuflucht suchen?
Viele Frauen, die in Südtiroler Notunterkünften Zuflucht suchen, tragen eine Vielzahl einzigartiger Lebensgeschichten und Herausforderungen mit sich. Monika Verdorfer, die seit 28 Jahren für die Caritas arbeitet und seit 2013 die Obdachloseneinrichtungen in Meran leitet, schildert: „Viele der betroffenen Frauen, die aufgrund einer Sucht- und oder psychischen Erkrankung oder anderen familiären Umständen keiner Vollzeitbeschäftigung nachgehen, können sich, so wie natürlich Männer auch, auf dem teuren Südtiroler Wohnungsmarkt keine eigene Wohnung leisten. Auch sogenannte ‚badanti‘ kommen zu uns, weil die Person, um die sie sich gekümmert haben, verstorben ist und sie daraufhin die Wohnung verlassen müssen. Wir beherbergen aber auch einige alleinerziehende Mütter, deren Kinder getrennt von ihnen in einer Fremdunterkunft untergebracht sind. Das ist oft besonders bitter, weil diese Frauen durchaus imstande wären, auf ihre Kinder zu schauen, aber leider nicht genug verdienen, um sich die teuren Mieten und eine Kinderbetreuung leisten zu können. Wir beherbergen auch sehr junge Frauen, sie leiden häufig an einer Sucht- und oder anderen psychischen Erkrankung.“

Gibt es ausreichende Hilfsangebote für Frauen?
Während es für Männer zahlreiche Notunterkünfte und spezielle Unterstützungsprogramme gibt, bleibt das Angebot für Frauen äußerst begrenzt. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wie es für eine Frau sein könnte, auf einer langen Warteliste zu stehen, während sie dringend eine Unterkunft benötigt? Besonders herausfordernd ist die Situation für geflüchtete Frauen mit Migrationshintergrund. Wie kann eine Frau, die die Sprache nicht spricht und keine sozialen Netzwerke hat, in einer fremden Umgebung Fuß fassen? Oft sind diese Frauen jung, unerfahren und haben kleine Kinder. Unter diesen Umständen ist es nahezu unmöglich, Arbeit zu finden oder eine geeignete Unterkunft. Was geschieht also mit den alleinstehenden Frauen, die dringend Hilfe benötigen?

Wie sieht der Alltag für Frauen in einer Unterkunft aus?
Für Frauen in prekären Lebenssituationen ist es entscheidend, nicht nur einen Unterschlupf, sondern auch einen Raum zu finden, der Sicherheit und Struktur bietet. Ein geregelter Alltag kann entscheidend dazu beitragen, ihre Lebenssituation nachhaltig zu verbessern. Im Haus Arché finden obdachlose Frauen schließlich genau das. Frau Verdorfer erläutert, dass die Frauen des Haus Arché regelmäßige Mahlzeiten und Zugang zu Waschmöglichkeiten erhalten. Jede Frau wird individuell unterstützt und bekommt eine*n Bezugsbetreuer*in zugewiesen. Die Mitarbeitenden helfen dabei, wo Unterstützung benötigt wird, und stellen den Kontakt zu Fachdiensten her, um bei der Arbeits- und Wohnungssuche zu unterstützen.

Was berührt in der Arbeit mit obdachlosen Frauen am meisten?
Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wie es ist, ohne festen Wohnsitz zu leben, besonders als Frau? Welche Hoffnungen und Träume bleiben in solch einer verletzlichen Situation auf der Strecke? In der Arbeit mit obdachlosen Frauen gibt es zahlreiche Geschichten, die tief berühren und zeigen, wie wertvoll Menschlichkeit sein kann. Verdorfer hebt hervor: „Ganz konkret ist es uns in Zusammenarbeit mit unseren Netzwerkpartnern gelungen, dass eine schwangere Frau eine Wohnung bekommen hat und dort mit ihrem Neugeborenen eingezogen ist und die fremduntergebrachten Kinder wieder zurückbekommen hat. Einige andere Frauen haben einen Therapieplatz bekommen oder Frauen, die als ‚badanti‘ gearbeitet haben, haben wieder eine Arbeit mit Unterkunft bekommen. Am meisten berührt mich, wenn wir – wie zur Zeit wieder – sehr junge Frauen beherbergen, die meine Töchter sein könnten oder schwangere Frauen, die wir bis zur Geburt ihres Kindes im Obdachlosenhaus beherbergen müssen, da keine geeignete Unterkunft gefunden wird.”

Wo gibt es Hoffnung, wo Herausforderungen?
Frau Verdorfer betont, dass es immer Hoffnung gibt und die Lebensqualität der Frauen in den meisten Fällen verbessert werden kann, auch wenn es oft nur kleine Fortschritte sind. Sie sieht eine große Herausforderung im demografischen Wandel, da immer mehr alleinstehende ältere Menschen ohne familiäre Unterstützung vor Schwierigkeiten stehen, während Wohnungen knapp und teuer sind. Die Erfahrungen von Hilfsorganisationen zeigen also deutlich, dass es mehr Anlaufstellen braucht. Warum gibt es also immer noch so wenige Einrichtungen, die speziell auf die Bedürfnisse von obdachlosen Frauen ausgerichtet sind? Warum fehlen geschützte Wohnräume für Frauen mit Kindern oder für Frauen, die aus gewaltvollen Beziehungen fliehen?

Wie kann die Gesellschaft helfen?
Jeder Mensch hat das Recht auf ein sicheres Zuhause und ein unterstützendes Umfeld. Was können wir als Gemeinschaft tun, um sicherzustellen, dass alle Frauen Zugang zu angemessenem Wohnraum und Unterstützung erhalten? Wie können wir Vorurteile abbauen und das Bewusstsein für die Bedürfnisse von Frauen in prekären Lebenslagen stärken?

Wir können Solidarität zeigen – sei es durch ehrenamtliche Arbeit, Spenden oder ein offenes Ohr. Es liegt an uns, eine inklusive und empathische Gesellschaft zu schaffen, die die Herausforderungen der Obdachlosigkeit erkennt und aktiv Lösungen sucht. Frau Verdorfer bringt es auf den Punkt: „Manchmal reicht auch nur das Hinschauen oder Nachfragen.“
Monika Verdorfer
Die Dienste der Caritas für Frauen ohne feste Bleibe
Die Südtiroler Caritas betreibt mit dem Haus Margaret landesweit die einzige Einrichtung, die sich ausschließlich um obdachlose Frauen kümmert, aber auch in den anderen Obdachlosendiensten der Caritas in Bozen, Brixen, Bruneck, Meran und Kal­tern, in den Caritas-Einrichtungen für Migranten, die über das gesamte Gebiet verteilt sind, und bei der Caritas Sozialberatung und Schuldenberatung werden Frauen in Wohnungsnot begleitet, beraten und finanziell unterstützt. Wer Hilfe braucht, kann sich an Tel. 0471 304300 wenden. Hilfe für obdachlose Menschen in Südtirol leistet auch die Südtiroler Vinzenzgemeinschaft mit einem Hygie­nezentrum in Bozen, den Lebensmitteltafeln und den Kleiderkammern.

Infos unter Tel.: 0471 324 208

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Und erkläre uns unsere Welt…

// Alexandra Kienzl //
Mann redet, Frau hört zu: Das muss aufhören.
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Was haben Mansplaining, das unverlangte Erklären der Welt durch Männer an (zumeist) Frauen, und ein Bart gemeinsam? Genau, nicht alle Männer tun es bzw. haben einen, aber jene, die es tun bzw. Bart tragen, sind fast ausnahmslos männlich. Wenn Sie weiblich sind oder so gelesen werden, dann brauche ich Ihnen nicht lange schildern, wie es üblicherweise abläuft: Boy meets girl, die beiden kommen ins Gespräch, und irgendwann überkommt den Mann der unüberwindbare Drang, seine Gesprächspartnerin an seinem Spezialwissen teilhaben zu lassen. Aber es muss nicht unbedingt ein der Zuhörerin völlig fremdes Gebiet sein, ganz im Gegenteil: Mehr als einmal hat mann mich bereits über mein Studienfach belehrt, mir Eigenheiten der englischen Sprache aufgezeigt, über korrekte Aussprache doziert, und sich nicht davon abhalten lassen, dass die eigene Qualifikation „nur“ in einem Maturaabschluss und dem Konsum von englischsprachigen Filmen besteht.

Verstehen sie mich bitte nicht falsch: Ich lerne gerne dazu, ich habe Bildungslücken, und es tut immer gut, mal ordentlich über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, aber wow: Einmal im Leben möchte ich über die Selbstgewissheit und Nonchalance verfügen, mit der Männer davon ausgehen, dass sie erstens im besagten Bereich mehr wüssten als ihr Gegenüber, und zweitens, dass dieses Gegenüber jetzt tatsächlich Bock auf einen halbstündigen Vortrag über die Geschichte der afrikanischen Kontinentalplatte hat. Signale, die das Gegenteil bezeugen, werden meisterhaft ignoriert, und ich muss zugeben, ich bin auch nicht gut darin. Meist nicke ich fassungslos aber freundlich, wenn ich merke, holla, es geht schon wieder los, der Mansplainer-Zug nimmt Fahrt auf und ich bin wider Willen Passagier. Im Geiste gehe ich dann meine To-do-Liste durch oder überlege, was man so gegen den Klimawandel unternehmen könnte oder auch nur, ob meine Hose zu meinen Schuhen passt. Leider wird diese Entrücktheit meist als gesteigertes Interesse interpretiert („geweitete Pupillen, sie steht drauf!“), was die Erklärungseuphorie der Vortragenden nur noch intensiviert. Ich muss einfach lernen, ausgiebig zu gähnen, abzuwinken und „Lass mal stecken“ zu sagen, dann knallharter Themenwechsel. Aber dafür sind wir Frauen, zu unserem eigenen Nachteil, einfach zu gut erzogen. Noch.

Wieso Männer das machen, dazu habe ich mehrere Theorien. Vielleicht wird ihnen das von klein auf als normale Konversation beigebracht: Rede über irgendwelche Fachbereiche, dann musst du nicht über dich und deine Gefühle sprechen. Vielleicht funktioniert es als Eroberungsstrategie: Die Frau ist irgendwann so fertig erklärt, dass sie sich bereitwillig küssen lässt; Hauptsache, der Typ ist endlich still – aber nein, unwahrscheinlich, denn aphrodisierend wirkt das paternalistische Gesplaine gar nicht. Ich vermute, dass dem Ganzen ein missionarischer Eifer zugrunde liegt, der nur leider hundertfünfzig Jahre zu spät kommt: Mann möchte Frau an seinem üppigen Weltwissen teilhaben lassen und lässt dabei völlig außer Acht, dass Frauen mittlerweile selbst über eine ganz passable Ausbildung verfügen. Die Zeiten, in denen man ihnen wenig mehr als stricken und Knödel drehen beibrachte, sind gottlob vorbei. Außerdem, das hat sich möglicherweise auch noch nicht so herumgesprochen, besitzen auch Frauen Smartphones und schaffen es ganz gut, sich Informationen zu Themen, die sie interessieren, aus dem Internet zu beschaffen. Auch wir haben Wikipedia, Siri und Alexa, und sind somit auf das gebündelte Wissen von Dieter, Franz und Werner nicht unbedingt angewiesen. Wenn ihr uns also wirklich beeindrucken wollt, liebe Männer, versucht‘s mal mit zuhören, nachfragen, in den Dialog gehen. Das ist nicht nur spannender, sondern auch weniger anstrengend (für beide Seiten!) als euer Monologisieren, und wer weiß, womöglich lernt ihr dabei ja sogar mal was von uns.