Young

Couchgespräche

// Kathinka Enderle //
Liebes Tagebuch, vor dieser Jahreszeit fürchte ich mich am meisten
© pixabay
Wer die Couchgespräche zwischen Chiara, Giulia und mir öfter liest, weiß, dass wir den Ernst des Lebens stets mit einer Prise Humor und einem Lichtblick würzen. Doch dieses Thema ist anders. Eine meiner beiden lieben Freundinnen hat sich entschieden, einen früheren Tagebucheintrag zur Verfügung zu stellen, um auf ein Thema aufmerksam zu machen, das viele betrifft und in unserer Gesellschaft häufiger vorkommt, als man vermutet: die Winterdepression. Deshalb wird dieser Artikel anders, als die vorherigen, in der Hoffnung, aufzeigen zu können, wie ernst dieses Thema ist.
„Liebes Tagebuch,
vor dieser Jahreszeit fürchte ich mich am meisten. Der Herbst beginnt und damit auch so langsam dieses schleichende Gefühl der Traurigkeit, das mich genauso umhüllt wie die kalten Nebel unser Dorf jeden Morgen. Das Wetter wird grauer und kälter und auch die Blätter, die der Natur die verschiedensten Farben verleihen, schaffen es nicht, mich aufzuheitern. Früher habe ich den Herbst geliebt. Jetzt erdrückt mich die Kälte, sowohl draußen als auch drinnen.

Morgen gehe ich wieder zur Schule, aber das Aufstehen ist eine Qual. Auf dem Weg am Morgen fühlt sich die Dunkelheit an wie ein schwerer Vorhang, der über mir hängt. Jedes Mal, wenn der Wecker klingelt, fühlt es sich an, als ob mir eine Stimme ins Ohr flüstert: „Bleib im Bett, es ist besser so.“ Ich weiß, dass es nicht besser so ist, aber es ist so anstrengend, bildlich durch einen Schlamm waten zu müssen, nur um in den Tag zu starten.

Gestern war kein guter Tag. Ich wollte abends mit meinen Freunden gemütlich zusammensitzen und kochen, aber als es dann Zeit war aus dem Haus zu gehen, war ich zu müde. Stattdessen saß ich dann allein daheim, umgeben von Stille. Später habe ich aus dem Fenster zugesehen, wie die Nachbarskinder draußen spielten. Mit dem Laub der Bäume auf dem Boden hatten sie besonders Spaß. Kindliche Freude muss sich schön anfühlen, während ich hier wie eine Gefangene bin. In meiner Wohnung, in meinem Leben, in meinem Kopf. Dabei bin ich keine Gefangene, eigentlich nicht. Ich weiß, ich könnte meine Wohnung jederzeit verlassen, und doch kann ich es nicht. Mein Kopf fühlt sich an wie ein Gefängnis. Ich hasse es.

Ich muss mich an die Worte meiner Therapeutin erinnern. Darüber reden sei wichtig. Aber ich will anderen keine Belastung sein, man muss sich keine Sorgen machen. Noch nicht. Ich frage mich oft, ob ich den Winter überstehen kann, wenn es bereits im Herbst so schlimm ist. Es kommt mir vor, als ob ich in einem dunklen Tunnel bin, der nicht aufhört. Dann kommt der Frühling und es wird besser, aber bis dahin dauert es quälend ewig. Jeden Tag frage ich mich, wie lange ich das noch aushalte.

Heute Abend möchte ich eine Kürbissuppe kochen, in der Hoffnung, dass mir das Freude und Kraft gibt. Aber es macht mir auch Angst, das wieder nicht zu schaffen. Mir wieder etwas vorzunehmen und meine Pläne dann zu verwerfen, so wie gestern auch schon. Wieder zu versagen. Trotzdem will ich es versuchen. Ich möchte Kerzen anzünden und damit versuchen, Licht in das Dunkle zu bringen. Ich hoffe, diese Zeit geht bald vorbei. Ich möchte diesen Zustand nicht mehr fühlen. Ich möchte kämpfen, auch wenn es schwer ist und sich heute beinahe unmöglich anfühlt. Vielleicht ist es doch an der Zeit, sich Sorgen zu machen?“

Erkennen und Verstehen
Die Tage werden kürzer, die Nächte ziehen sich endlos in die Länge, und das wenige Sonnenlicht, das den Himmel erhellt, scheint oft nicht auszureichen, um die Dunkelheit zu vertreiben – weder draußen noch in den Emotionen vieler Betroffenen. Der Wandel dieser Jahreszeit zeigt sich oft nicht nur in der Natur, sondern auch im Leben vieler Menschen. Manche spüren, wie das Leben an Leichtigkeit verliert, eine zuvor kleine Alltagslast immer schwerer wird und sich jeder Schritt ein wenig schleppender anfühlt. Die wärmende Sonne, wie wir sie in Südtirols Sommern kennen, zeigt sich nun selten; und wenn sie mal am Himmel ist, ist sie oft zu schwach und zu kalt.

Winterblues oder Winterdepression?
Für manche ist der Winter nur wie ein sanfter, melancholischer Schleier, der über ihnen liegt. Häufig hört man in diesem Zusammenhang das Wort „Winterblues“ fallen. Es ist ein Gefühl der Nachdenklichkeit, das kommt und geht, möglicherweise auch ein Hauch von Traurigkeit – spürbar, aber nicht überwältigend. Menschen, die vom Winterblues betroffen sind, schaffen es trotzdem den kleinen Freuden des Lebens nachzugehen, sich an den Farben der Natur oder der nahenden Weihnachtszeit zu erfreuen.

Doch für andere, wie auch für meine liebe Freundin, geht die Dunkelheit tiefer. Wenn das Grau des Winters nicht nur den Himmel einfärbt, sondern auch das Gemüt, spricht man von einer saisonal abhängigen Depression (SAD), auch bekannt als Winterdepression. Es scheint, als ob die innere Welt dem Herbstlaub folgt, das von Bäumen fällt und verwelkt – ein Rückzug in sich selbst, bei dem jeder kalte Luftzug ein kleines Stück Hoffnung mit sich verträgt. Während draußen die Natur zur Ruhe kommt, verharren die Betroffenen in einer Art innerem Winterschlaf, aus dem es kaum ein Erwachen gibt, bis das Licht endlich wiederkehrt.

Die Ursache einer Winterdepression
Noch ist die genaue Ursache der Winterdepression unklar, doch vieles deutet darauf hin, dass das fehlende Licht des Winters eine zentrale Rolle spielt. Wenn die Tage kürzer werden und der Himmel sich häufiger hinter grauen Wolken verbirgt, erreicht weniger Sonnenlicht unsere Haut und Augen. Dieser Mangel an Licht und Lebensfreude kann in einer Depression münden. Zudem verspüren viele das Bedürfnis, sich tiefer in das warme Bett zu vergraben, wie Bären im Winterschlaf. Doch statt uns zu erholen, kann dieses Rückziehen den Rhythmus stören. Der Kreislauf von zu viel Schlaf und noch mehr Erschöpfung verstärkt die innere Leere und das Gefühl der Entfremdung. Die Winterdepression kann also wie ein langsam wachsender Schatten um sich greifen, bis sie das Innere völlig umhüllt.

Wege zurück ins Licht
In dieser Zeit kann das Licht, das wir suchen, nicht nur von der Sonne, sondern auch aus anderen Quellen kommen. Tageslicht und frische Luft wirken wie Balsam auf die Seele – selbst wenn die Sonne sich selten zeigt, kann der klare Himmel den Kopf erfrischen und das Herz beleben. Regelmäßige Spaziergänge und Bewegung in der Natur bringen nicht nur den Körper in Schwung, sondern lassen auch ein Stück Helligkeit in die Dunkelheit zurückkehren. Für manche ist auch eine Lichttherapie hilfreich: Spezielle Lampen, die das natürliche Sonnenlicht imitieren, können symptom-verbessernd wirken.


Und vielleicht ist am wichtigsten die menschliche Wärme. Der Kontakt zu geliebten Menschen, das Gefühl von Nähe und Verständnis, kann eine Kerze im Herzen entzünden, wenn draußen die Kälte herrscht. Auch wenn es schwerfällt können gemeinsame Momente die Einsamkeit durchbrechen und die Welt wieder ein wenig heller machen. Das war auch für meine liebe Freundin ein entscheidender Schritt, um mit ihrer Erkrankung besser umgehen zu können. Doch wenn die innere Trostlosigkeit trotz aller Anstrengungen anhält, ist es entscheidend, professionelle Hilfe durch Ärzt*innen oder Psycholog*innen zu suchen. Sie kann den Weg zurück ins Licht weisen und Hoffnung schenken, dass auch dieser Winter vorübergeht und der Frühling wiederkehren wird.

Traces

Von der Ohnmacht zur Veränderung

// Hannah Lechner //
TRACES beleuchtet die Langzeitfolgen sexualisierter Gewalt in Südtirol
2023 lief mit TRACES1 (Deutsch: Spuren) eine feministisch-partizipative Aktionsforschung zu den Langzeitfolgen sexualisierter Gewalt an Mädchen und Frauen in Südtirol an. Die Studie ist eine Kooperation von medica mondiale, dem Forum Prävention, dem Frauenmuseum Meran und der Universität Trient und wird von der Autonomen Provinz Bozen und der Stiftung Südtiroler Sparkasse finanziert. ëres hat vor etwas mehr als einem Jahr ausführlich mit Monika Hauser – Gynäkologin, Gründerin von medica mondiale und Initiatorin von TRACES – und Andrea Fleckinger – Sozialwissenschaftlerin an der Uni Trient und wissenschaftliche Leiterin der Studie – über die patriarchale Schweigekultur rund um sexualisierte Gewalt und die transgenerationale Weitergabe nichtaufgearbeiteter Traumata gesprochen. In dieser Ausgabe erzählt Andrea Fleckinger über erste konkrete Forschungseindrücke und über die Hoffnung, die TRACES in Bezug auf einen veränderten Umgang mit sexualisierter Gewalt in Südtirol macht.
Hier geht’s zum Interview in der ëres 4/2023
eres.bz.it/?ZID=900&AID=1238&ID=127664

Ziel von TRACES ist es, die Weitergabe von durch sexualisierte Gewalt erlebten Traumata besser zu verstehen und dabei anzufangen, das Sprechen über diese Gewalt zu ermöglichen. Was sind erste Forschungsergebnisse?
Es ist noch zu früh, um über Ergebnisse zu sprechen, wir haben gerade erst die Interviews abgeschlossen und beginnen nun mit der Analyse. Aber ich kann von ersten Eindrücken erzählen: Der Fokus unsere Studie liegt ja auf strukturellen Dynamiken – also darauf, wie die Gesellschaft aufgebaut ist und wie die verschiedenen Akteur*innen, z.B. in den Dörfern, zusammenspielen. Viele der interviewten Frauen berichten von Menschen, etwa Lehrpersonen, Ordnungskräften oder anderen Mitgliedern der Dorfgemeinschaft, die die Gewalt hätten sehen können oder tatsächlich davon gewusst haben, aber nicht gehandelt haben – weil sie nicht in der Lage dazu waren, nicht wussten wie, oder einfach weggeschaut haben. Dabei ist wichtig: Wenn es um sexualisierte Gewalt geht, gibt es keine neutrale Position für niemanden. Jedes Wegschauen ist ein Stärken des Täters, der nicht für sein Handeln zur Verantwortung gezogen wird. Jedes Mal, wenn einer Betroffenen nicht geglaubt wird und sie nicht ernst genommen wird, erfährt der Täter Legitimation für sein Handeln. Gleichzeitig handelt es sich bei den Forschungsteilnehmerinnen um Frauen, die sich aktuell nicht in einer akuten Krise befinden, sondern einen Weg gefunden haben, mit ihren Erfahrungen gut weiterzuleben – d.h., sie konnten auch davon berichten, was ihnen geholfen hat. Und da zeigt sich, dass es in fast allen Fällen auch mindestens eine Person gab, die eben nicht weggeschaut, sondern ihnen geglaubt und sie in irgendeiner Form unterstützt hat. Und diese Menschen – oft waren es ebenfalls Lehrpersonen, neue Partner oder auch Psycholog*innen oder Psychotherapeut*innen – waren enorm wichtig. Das erweiterte soziale Umfeld spielt also eine ganz wichtige Rolle, sei es für die Aufrechterhaltung von Strukturen, die sexualisierte Gewalt begünstigen, sei es für die Unterstützung von Betroffenen. Die gesamtgesellschaftliche Verantwortung zeigt sich hier sehr deutlich.

Inwiefern macht TRACES Hoffnung, dass sich der Umgang mit sexualisierter Gewalt in Südtirol in Zukunft verändern wird und dadurch weniger Gewalt passiert?
Unsere Studie ist partizipativ angelegt, das bedeutet, dass alle Teilnehmerinnen sie aktiv mitgestalten können. Somit bieten wir die Möglichkeit, gemeinsam Veränderung zu initiieren und zielen auch darauf ab, eine gesellschaftliche Verantwortungsübernahme, die ich oben schon angesprochen habe, zu bewirken. TRACES versteht sich als konkrete Umsetzung der Istanbul-Konvention2. Ich gebe mich nicht der Illusion hin, dass wir mit drei Jahren Forschung alles verändern können, aber das Projekt hat das Potential, diese Prozesse anzustoßen. Es trägt dazu bei, dass es in der Gesellschaft mehr Wissen über die Langzeitfolgen von sexualisierter Gewalt gibt und auch darüber, was transgenerationale Traumatisierung ist. Traumata können über mehrere Generationen in den Familien wirken, darum ist es wichtig zu wissen, was wir tun können, um dies zu vermeiden und sexualisierte Gewalt erst gar nicht entstehen zu lassen. Ein Ziel ist es z.B., dass sich jede*r fragt: Okay, was ist meine Rolle und meine Verantwortung, wenn es um sexualisierte Gewalt geht?

Eure Ergebnisse sollen also unmittelbar zu Aufklärung und Veränderung beitragen. Gibt es da schon konkrete Schritte?
Ja – die Ergebnisse sollen einen Nutzen für die ganze Südtiroler Gesellschaft haben und, neben den wissenschaftlichen Publikationen und Diskussionen, auch so kommuniziert werden, dass sie für alle zugänglich sind. Deswegen wird es Ende 2025 eine Ausstellung im Frauenmuseum Meran geben. Das Forum Prävention spielt auch eine zentrale Rolle für die Veränderungen, die angestoßen werden. Dort wird ein ganzheitliches Präventionskonzept zum Thema sexualisierte Gewalt an Mädchen und Frauen ausgearbeitet, das auf den Studienergebnissen basiert.
1 TRACES steht für TRAnsgenerational ConsEquences of Sexualized violence, Deutsch: Transgenerationale Folgen sexualisierter Gewalt
2 Die Istanbul-Konvention wurde 2011 beschlossen und ist das erste völkerrechtlich verbindliche Übereinkommen zur umfassenden Bekämpfung aller Formen von Gewalt an Frauen in Europa. In Italien trat sie 2014 in Kraft.
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