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Märchen gegen das Schweigen

// Sabina Drescher //
Jahrelang schwieg Ntailan Lolkoki, die als Kind Opfer weiblicher Genitalverstümmelung wurde. Heute lebt die Kenianerin in Berlin. Sie hat ein afrikanisches Märchen geschrieben, um andere vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren.
© Ntailan Lolkoki / Frank Rothe
Es ist ein menschenverachtendes Ritual, das selbst im 21. Jahrhundert trotz gesetzlicher Verbote noch immer weit verbreitet ist, vor allem im subsaharischen Afrika, doch auch mitten in Europa: weibliche Genitalverstümmelung. Diese dient nach wie vor als Mittel der Kontrolle der weiblichen Selbstbestimmtheit und Freiheit und ist eng verbunden mit der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Abhängigkeit von Frauen.
Bei manchen Völkern markiert die Beschneidung den Übergang vom Mädchen- zum Frausein. Die Weltgesundheitsorganisation WHO unterscheidet drei verschiedene Arten. Bei Typ I wird die Klitoris entfernt. Bei Typ II werden zusätzlich die kleinen Labien abgeschnitten. Bei Typ III, der Infibulation, werden auch die großen Labien entfernt und die Wunde bis auf eine kleine Öffnung zugenäht.

Der Eingriff wird meist ohne Betäubung und sterile Werkzeuge vorgenommen. Als Folge erleiden zahlreiche Mädchen Gesundheitsprobleme: Zysten, Infektionen, Unfruchtbarkeit, Komplikationen bei der Geburt ihrer Kinder.
Auch Ntailan Lolkoki musste diese abscheuliche Prozedur über sich ergehen lassen. Sie wuchs in einem Dorf in der Nähe von Barsaloi im Norden Kenias auf, zur Hälfte Massai, zur Hälfte Samburu. Laut Unicef sind etwa ein Viertel der Kenianerinnen zwischen 15 und 49 Jahren beschnitten.
Lolkoki war zwölf, als sie verstümmelt wurde. Nachdem ihre Familie immer weiter zerbrochen war, zog es Lolkoki nach Nairobi. Dort lernte sie einen britischen Soldaten kennen, dem sie bald in seine Heimat und später nach Deutschland folgte. Doch die Ehe war unglücklich, vor allem, weil Lolkoki durch die Beschneidung den Kontakt zum eigenen Körper verloren hatte.
Heute lebt Lolkoki als Künstlerin in Berlin und engagiert sich u.a. für das Desert Flower Center gegen Gewalt an Frauen und gegen Beschneidung. Ihre Geschichte erzählt sie in dem Buch „Flügel für den Schmetterling“, erschienen 2017 im Droemer Knaur Verlag.

Um andere Mädchen und Frauen vor einem ähnlichen Schicksal wie dem ihren zu bewahren, hat Lolkoki ein afrikanisches Märchen geschrieben: „The Kingdom of Watetu and Songaland“ (bisher nur auf English erhältlich). Es erzählt die Geschichte zweier Stämme, die friedlich zusammenleben, bis sich die Prinzessin der Watetu gegen die in ihrem Stamm praktizierte Tradition auflehnt und vor ihrer eigenen Beschneidung flieht. Hilfe bekommt sie vom Prinzen der Songaland, die diese Praxis ablehnen. Zwischen den beiden Volksgruppen kommt es daraufhin zum Streit.
Mit Unterstützung der kenianischen Botschaft plant Lolkoki derzeit eine Reise quer durch das ostafrikanische Land, um mit Schulkindern über ihr Buch zu sprechen.

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Kolumne - Freiheit im Kopf

// Alexandra Kienzl //
Was wissen Sie über Kohlehydrate? Mehr als Sie glauben, garantiert.
„Hast du meine Hose geschrumpft?“, fragte mich der Mann halb anklagend, halb entsetzt. Ich konnte es nicht hundertprozentig ausschließen, wies es aber zunächst natürlich einmal entrüstet zurück. Erst als sich herausstellte, dass auch die zweite, dritte und vierte Hose nicht mehr passte, konnte jeder Verdacht von mir und meinen zweifelhaften Wasch-Skills abgewendet werden: „Das war nicht ich, du hast zugenommen!“ Der Mann war schockiert. Wie konnte das sein? Er hatte sich nie im Leben Gedanken über sein Gewicht gemacht, immer gegessen, was er wollte, und plötzlich waren alle seine vormals bequemen Jeans „extra super mega skinny“. „Was mache ich jetzt?“, fragte er. Zu meinem Erstaunen hörte ich mich selbst loslegen von wegen weniger Kohlehydrate am Abend, Body-Mass-Index, Jo-Jo-Effekt und verlangsamtem Stoffwechsel ab 40. Ich wunderte mich, welche Worte da aus meinem Mund kamen, und noch mehr darüber, wie die wohl in meinen Kopf gekommen waren. Es handelte sich immerhin um Informationen, die mein Mann zwar interessiert aufnahm („Aha, aha“), die ich aber nicht bewusst dort abgelegt hatte. Woher zum Kuckuck wusste ich diese Dinge? Und wieso hatte ich ihnen erlaubt, Platz in meinem Hirn einzunehmen, obwohl ich noch nie, zumindest nicht bewusst, eine Diät gemacht hatte oder mich darüber informiert hatte?
Ich erzählte einer Freundin davon. „Ja logisch wissen wir diese Sachen“, meinte sie. „Ob wir wollen oder nicht.“ Aus Gesprächen mit Freundinnen, die sich um ihre Figur sorgen. Aus Frauenzeitschriften, die wir vielleicht auch nur beiläufig beim Friseur durchblättern und die uns trotzdem hocheffizient giftige Pfeilchen in den Kopf schießen dazu, wie wir sein sollten und eben nicht sind. Aus Ratschlägen unserer Mütter, Tanten, Omas, die sagen: „Hosch zuagnummen? Hosch ognummen? Steaht dir gut. Schaugsch schlecht aus. Du isch zu wianig, zu viel, zu spat, es Folsche.“ Aus Filmen, in denen die Hauptdarstellerin erst die Liebe finden darf, nachdem sie ihren Body derart optimiert hat, dass sie von ihrem eigenen Hund nicht wiedererkannt wird. Kurzum: Von allen Seiten werden wir von Kindesbeinen an mit Informationen dazu gefüttert, wie nicht nur unser Körper, nein, auch unser Verhalten, Denken, unsere Zukunftsplanung auszuschauen hat, sodass wir es eines Tages ganz mühelos runterrattern können, so wie ich meinem entsetzten Mann seinen Kalorienverbrauch.
Zu denken, welche Infos da sonst Platz hätten im Kopf! Der Busfahrplan statt Fettgehalt. Die Biographie von Ada Lovelace statt der Zunahme-Abnahme-Geschichte von Sängerin Adele. Die Geschichte der abendländischen Philosophie statt den Dos und Don'ts der begehrenswerten Frau. Aber nein, machen wir uns keine Illusionen: Der Mann weiß nichts vom Body-Mass-Index, dafür kennt er garantiert die Farbe der Glücksunterhose vom Inter-Mittelfeldspieler auf der Ersatzbank. Nutzlose Informationen werden nicht automatisch mit wertvollen ersetzt, wenn Platz frei wird. Wir wären also nicht klüger, wenn wir all dieses Diätwissen etc. nicht hätten, aber mit Sicherheit unbeschwerter. Könnten den Eisbecher im Café mehr genießen, uns ohne schlechtes Gewissen noch ein ordentliches Stück Lasagne bei Mama gönnen, und immer noch recherchieren, wenn der Knopf an der Hose dann wirklich nicht mehr zugeht, anstatt uns vorher schon zu sorgen, dass das passieren könnte. Eine Diät braucht es also vor allem in unseren Köpfen: Mal achtsam durchforsten, was da alles so rumliegt an Tipps und Vorschriften und Normen, das längst gammelig geworden ist, ungenießbar. Es von allen Seiten betrachten, abwägen, neu bewerten, aussortieren. Und uns selbst genau zuhören, wenn wir sprechen und doch wieder reproduzieren, was uns und andere eigentlich einschränkt.