Think

Kolumne - Freiheit im Kopf

// Alexandra Kienzl //
Was wissen Sie über Kohlehydrate? Mehr als Sie glauben, garantiert.
„Hast du meine Hose geschrumpft?“, fragte mich der Mann halb anklagend, halb entsetzt. Ich konnte es nicht hundertprozentig ausschließen, wies es aber zunächst natürlich einmal entrüstet zurück. Erst als sich herausstellte, dass auch die zweite, dritte und vierte Hose nicht mehr passte, konnte jeder Verdacht von mir und meinen zweifelhaften Wasch-Skills abgewendet werden: „Das war nicht ich, du hast zugenommen!“ Der Mann war schockiert. Wie konnte das sein? Er hatte sich nie im Leben Gedanken über sein Gewicht gemacht, immer gegessen, was er wollte, und plötzlich waren alle seine vormals bequemen Jeans „extra super mega skinny“. „Was mache ich jetzt?“, fragte er. Zu meinem Erstaunen hörte ich mich selbst loslegen von wegen weniger Kohlehydrate am Abend, Body-Mass-Index, Jo-Jo-Effekt und verlangsamtem Stoffwechsel ab 40. Ich wunderte mich, welche Worte da aus meinem Mund kamen, und noch mehr darüber, wie die wohl in meinen Kopf gekommen waren. Es handelte sich immerhin um Informationen, die mein Mann zwar interessiert aufnahm („Aha, aha“), die ich aber nicht bewusst dort abgelegt hatte. Woher zum Kuckuck wusste ich diese Dinge? Und wieso hatte ich ihnen erlaubt, Platz in meinem Hirn einzunehmen, obwohl ich noch nie, zumindest nicht bewusst, eine Diät gemacht hatte oder mich darüber informiert hatte?
Ich erzählte einer Freundin davon. „Ja logisch wissen wir diese Sachen“, meinte sie. „Ob wir wollen oder nicht.“ Aus Gesprächen mit Freundinnen, die sich um ihre Figur sorgen. Aus Frauenzeitschriften, die wir vielleicht auch nur beiläufig beim Friseur durchblättern und die uns trotzdem hocheffizient giftige Pfeilchen in den Kopf schießen dazu, wie wir sein sollten und eben nicht sind. Aus Ratschlägen unserer Mütter, Tanten, Omas, die sagen: „Hosch zuagnummen? Hosch ognummen? Steaht dir gut. Schaugsch schlecht aus. Du isch zu wianig, zu viel, zu spat, es Folsche.“ Aus Filmen, in denen die Hauptdarstellerin erst die Liebe finden darf, nachdem sie ihren Body derart optimiert hat, dass sie von ihrem eigenen Hund nicht wiedererkannt wird. Kurzum: Von allen Seiten werden wir von Kindesbeinen an mit Informationen dazu gefüttert, wie nicht nur unser Körper, nein, auch unser Verhalten, Denken, unsere Zukunftsplanung auszuschauen hat, sodass wir es eines Tages ganz mühelos runterrattern können, so wie ich meinem entsetzten Mann seinen Kalorienverbrauch.
Zu denken, welche Infos da sonst Platz hätten im Kopf! Der Busfahrplan statt Fettgehalt. Die Biographie von Ada Lovelace statt der Zunahme-Abnahme-Geschichte von Sängerin Adele. Die Geschichte der abendländischen Philosophie statt den Dos und Don'ts der begehrenswerten Frau. Aber nein, machen wir uns keine Illusionen: Der Mann weiß nichts vom Body-Mass-Index, dafür kennt er garantiert die Farbe der Glücksunterhose vom Inter-Mittelfeldspieler auf der Ersatzbank. Nutzlose Informationen werden nicht automatisch mit wertvollen ersetzt, wenn Platz frei wird. Wir wären also nicht klüger, wenn wir all dieses Diätwissen etc. nicht hätten, aber mit Sicherheit unbeschwerter. Könnten den Eisbecher im Café mehr genießen, uns ohne schlechtes Gewissen noch ein ordentliches Stück Lasagne bei Mama gönnen, und immer noch recherchieren, wenn der Knopf an der Hose dann wirklich nicht mehr zugeht, anstatt uns vorher schon zu sorgen, dass das passieren könnte. Eine Diät braucht es also vor allem in unseren Köpfen: Mal achtsam durchforsten, was da alles so rumliegt an Tipps und Vorschriften und Normen, das längst gammelig geworden ist, ungenießbar. Es von allen Seiten betrachten, abwägen, neu bewerten, aussortieren. Und uns selbst genau zuhören, wenn wir sprechen und doch wieder reproduzieren, was uns und andere eigentlich einschränkt.

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Welches Geschlecht hat unsere Kleidung?

// Pia von Musil //
Geschlechtsspezifische Mode geht Hand in Hand mit der Ungleichheit von Frau und Mann. Sie aufzubrechen erfordert Mut, Charakterstärke und den unermüdlichen Glauben an Veränderung.
„Kleider machen Leute“ – nur ungeschickt, wenn eben diese Kleider schon darauf aus sind, Frauen einzuzwängen und ihnen im wahrsten Sinne des Wortes die Luft abzuschnüren. Natürlich hat sich die Welt der Mode erheblich weitergedreht, aber ein kleiner Exkurs in die Zeit des Korsetts kann trotzdem nicht schaden.
Immer schon, aber besonders zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, hatten es gesellschaftlich angesehenere Frauen schwer. Dies berichtet unter anderem die französische Philosophin und Vorreiterin, ja Begründerin des modernen Feminismus, Simone de Beauvoir (1908–1986) in mehreren Abhandlungen. So machte die Tochter aus gutem Hause schon früh die Erfahrung, dass es sich für eine Frau besser schicke, brav zu lächeln und angepasst den Alltag zu bestreiten als eigene Vorstellungen zu verfolgen und aufmüpfig zu werden.
De Beauvoir ist es neben solchen Beschreibungen auch zu verdanken, dass wir unter anderem die Begriffe „sex“ und „gender“ unterscheiden.
„Sex“, damit wird das biologische Geschlecht gemeint, mit „gender“ wird das kulturelle, das soziale Geschlecht beschrieben. „Sex“ ist angeboren, „gender“ ist sozialisiert und erlernt. Mit ihrem Zitat „Man ist nicht als Frau geboren, man wird es“, bringt es Simone de Beauvoir auf den Punkt.
Sozialisation ist notwendig, damit ein gesellschaftliches Zusammenleben funktioniert. Dass jedoch mit dieser erlernten Anpassung auch Zwänge einhergehen, dürfte mittlerweile niemandem mehr neu sein.
Das Ganze beginnt schon im zarten Kindesalter. Das Kinderzimmer wird traditionsgemäß in einer „Mädchen- oder Jungenfarbe“ gestrichen. Es wird sehr häufig davon ausgegangen, dass sich ein Kind mit seinem biologischen und kulturellen Geschlecht gleichermaßen anfreunden kann. Dass dies nicht immer der Fall ist, muss dann nicht selten unter Scham der Verwandtschaft oder noch besser, dem halben Dorf gestanden werden.
Kein Wunder also, dass heute Eltern vermehrt auf genderneutrale Mode bei ihrem Nachwuchs setzen. Sie trägt zur freien Entfaltung des Kindes bei; es kann somit seine eigene Individualität entwickeln, ohne dass bereits Weichen von außen gestellt wurden.
Das große Thema rund um genderneutrale Mode wissen auch die großen Modedesigner zu nutzen. Marken wie Marc Jacobs präsentierten bereits eigene Kollektionen, welche keine vorgeschriebene*n Verbraucher*in haben.
Die sogenannte „polysexuelle Mode“ steht allen Menschen offen, unabhängig ihres biologischen Geschlechts. Dass diese Bewegung in der Modeindustrie längst keine kleine Nebenrolle mehr spielt, dürfte spätestens seit dem legendären Vogue-Cover von Harry Styles klar geworden sein.
Der weltbekannte Sänger und Songwriter ist nicht nur der allererste Mann, welcher allein das Cover der einflussreichsten Modezeitschrift zierte, sondern er präsentierte sich, passend der Zeit, in einem bodenlangen Kleid der Luxusmodemarke Gucci.
Die Reaktionen der breiten Öffentlichkeit darauf waren gespalten. Die einen teilten die Bilder des Fotografen Tyler Mitchell und feierten den Sänger und die Zeitung für das klare Bekenntnis pro genderneutrale Mode, die anderen übten Kritik mit dem Argument, der Sänger sei nicht der erste Mann in der Öffentlichkeit, welcher sich den vorgefertigten Rollenbildern widersetze und somit eine Lanze für Inklusion gebrochen hätte.
Am Ende ist diese Diskussion natürlich irrelevant, da es darum gehen soll, gemeinsam ein Zeichen gegen Stereotype zu setzen. Mode und die Art, sich zu kleiden, sind für viele Menschen eine gute Gelegenheit, ihre Identität auszuleben oder nach außen zu tragen. Es ist daher nicht verwunderlich oder abwegig, der Mode eine große Bedeutung und Aufgabe zuzuschreiben.
Bleibt zu hoffen, dass aus der inklusiven Bewegung nicht nur ein kurzlebiger Trend wird, sondern dass das politische Statement sich neben anderen Selbstverständlichkeiten einreiht und Weichen für eine ganzheitlich tolerantere Gesellschaft stellt.
© Vogue Cover Dezember 2020